Die Krisis 

Die Grundlinien der diplomatischen Verhandlungen bei Kriegsausbruch 

Von 

B. W. VON BÜLOW 

(1922)

III. Das Verhalten der Mächte

2. Rußlands Stellungnahme zum austro-serbischen Konflikt

A. Aufnahme der österreichisch-ungarischen Note in Petersburg

Die am 24. Juli in Petersburg bekannt gewordenen österreichisch-ungarischen Forderungen an Serbien riefen bei der dortigen Regierung eine außerordentliche Erregung hervor (Deutsche Dokumente Nr. 160, 204, 291). Allem Anschein nach würde angenommen, daß Österreich-Ungarn machtpolitische Ziele auf dem Balkan verfolge. Es ist in Petersburg von einer Revision des Bukarester Friedens, von einer Besetzung des Sandschak, einem Vormarsch auf Saloniki oder Konstantinopel und ähnlichem die Rede gewesen (österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr. 73). Sasonow sprach am 24. Juli zu Pourtales von den weitgehenden Plänen, die Österreich-Ungarn habe: "Erst solle Serbien verspeist werden, dann werde Bulgarien darankommen, und dann werden wir sie am Schwarzen Meer haben". (Deutsche Dokumente Nr. 204.)
Rußland war von Anfang an bereit, Krieg zu führen, um seinen Anspruch durchzusetzen, die Art der Regelung des austro-serbischen Konfliktes selbst zu bestimmen. Am 24. Juli früh erklärte Sasonow dem englischen Botschafter, daß Krieg drohe. Die russische Mobilmachung werde auf jeden Fall ausgeführt werden müssen (Englisches Blaubuch Nr. 6). Ehe am Nachmittag der russische Ministerrat tagte, fand auf der französischen Botschaft eine Aussprache zwischen Sasonow, Paleologue und Buchanan statt. Der Vorgang ist außerordentlich bezeichnend. Das Recht Österreich-Ungarns, Genugtuung von Serbien zu erlangen, wurde nicht erörtert. Nach seinem eigenen Zeugnis (a. a. O., S. 247) war es der französische Botschafter, der unter Hinweis auf die Ergebnisse des Präsidentenbesuchs für eine Politik der festen Hand eintrat. Sasonow hatte Bedenken: Wenn diese Politik uns aber in den Krieg treibt? Paleologue wies - wieder einmal - auf die deutschen Absichten hin und erklärte, man müsse von nun an auf den Krieg gefaßt sein. Frankreich werde alle Verpflichtungen erfüllen, die das Bündnis mit Rußland nach sich ziehen müßte (Englisches Blaubuch Nr. 6). Beide, der Russe und der Franzose suchten den Engländer zu überzeugen, daß London sich mit Petersburg und Paris solidarisch erklären müsse - wenn der Friede erhalten bleiben solle Paleologue stellte aber außer Zweifel, daß die Haltung Frankreichs bereits festgelegt sei.
Der Ministerrat vom Nachmittag des 24. Juli befaßte sich in erster Linie mit der Frage, ob die innere Lage Rußlands den Krieg gestatte. Diese Frage wurde anscheinend bejaht (Deutsche Dokumente Nr. 205). Am 25. Juli fand ein Kronrat statt, in dem die Mobilmachung von 13 Armeekorps gegen Österreich-Ungarn (nach dem französischen Gelbbuch Nr. 50) "ins Auge gefaßt" (nach Paleologues Tagebuch, a. a. O., S. 250) "im Prinzip beschlossen" wurde. Der Schönfärber Paleologue berichtete hierüber nach Paris: "Diese Mobilisation würde jedoch nur ausgeführt, wenn Österreich Serbien mit Waffengewalt zwingen wollte, und nur nach Einholung der Ansicht des Ministers des Äußern, dem die Aufgabe zufällt, das Datum festzusetzen, wobei ihm freistehe, die Verhandlungen selbst in dem Falle fortzuführen, daß Belgrad besetzt würde." (Französisches Gelbbuch Nr. 50.)
Dieser Bericht oder aber seine Wiedergabe im französischen Gelbbuch stellt jedoch eine Fälschung dar. Die Teilmobilmachung wurde schon am 25. Juli in die Wege geleitet, und Paleologue hat dies bereits am gleichen Tage erfahren. Am 26. Juli meldete er in einem Telegramm, das im Gelbbuch fehlt:
Gestern (am 25. Juli) hat mir in Krasnoje der Kriegsminister die Mobilmachung der (13) Armeekorps der vier Militärbezirke Kiew, Odessa, Kasan und Moskau bestätigt. Die Militärbezirke Wilna, Warschau und Petersburg erhalten außerdem geheime Weisungen. Über die Städte sowie über die Gouvernements Petersburg und Moskau wird der Belagerungszustand verhängt. In dem diesbezüglichen Erlaß folgt dann ein Verzeichnis der Gegenstände, über die die Zeitungen nicht schreiben dürfen, und die in der Tat nur militärische Fragen betreffen.
Die Beförderung der jungen Offiziere, die, wie üblich, am 18. August stattfinden sollte, ist gestern (25. Juli) abends um 6 Uhr eiligst erfolgt. Gleichzeitig wurde der Befehl gegeben, das Lager in Krasnoje abzubrechen. In diesem Augenblick treffen die Truppen wieder in ihren Standorten ein. Der Kriegsminister hat uns von neuem seine Absicht erklärt, Deutschland die Initiative eines eventuellen Angriffs zu überlassen. (Bericht an den französischen Senat - 704/1919 - S. 39, 127.)
Von einem deutsch-russischen Kriege war am 25. Juli einzig und allein in Petersburg die Rede. Fraglos wurde an diesem Tage die Teilmobilmachung angeordnet. Anscheinend erhielt amtliche Kenntnis hiervon nur der französische Botschafter, der wohl in Vorahnung entscheidender Beschlüsse nach dem Lager von Krasnoje Selo geeilt war. Der Zar selbst hat am 30. Juli, also nach Bekanntgabe der Mobilmachung gegen Österreich-Ungarn, an Kaiser Wilhelm telegraphiert: "Die militärischen Maßnahmen, die jetzt in Kraft getreten sind, wurden vor fünf Tagen zum Zwecke der Verteidigung wegen der Vorbereitung Österreichs (gegen Serbien!) getroffen." (Deutsche Dokumente Nr. 390.) Wenn auch das Geheimnis am 25. Juli ängstlich gehütet wurde, so konnte doch eine Mobilmachung dieses Umfanges nicht verborgen bleiben. Der deutsche Militärattache argwöhnte sie (Deutsche Dokumente Nr. 216), und der deutsche Militärbevollmächtigte wußte ebenfalls zu berichten, daß im Krasnojelager die Truppenübungen plötzlich abgebrochen, die Manöver abgesagt und die Kriegsschüler vorzeitig zu Offizieren befördert wurden. "Habe den Eindruck, daß man alle Vorbereitungen zur Mobilmachung gegen Österreich trifft".
(Deutsche Dokumente Nr. 194, 291.) Am Abend desselben Tages wurde der französische Militärattache, General de Laguiche, zu einer Konferenz mit dem Großfürsten Nikolaus Nikolajewitsch nach Zarskoje Selo befohlen (Paleologue, a. a. O., S. 251). Es wäre interessant, seinen Bericht über diesen Kriegsrat kennen zu lernen. Paleologue schweigt sich wohlweislich darüber aus.
Hierbei ist besonders hervorzuheben, daß spätestens im Laufe des 25. Juli das im Orangebuch nicht wiedergegebene Telegramm des russischen Geschäftsträgers in Wien über seine Unterredung mit Berchtold vom 24. Juli eingegangen sein muß, in der ihm der Minister erklärte, das Ziel der österreichisch-ungarischen Aktion bestehe darin, die unhaltbare Situation Serbiens zu Österreich-Ungarn zu klären und zu diesem Zwecke die serbische Regierung zu veranlassen, einerseits die gegen den derzeitigen Bestand der Monarchie gerichteten Strömungen öffentlich zu desavouieren und durch administrative Maßnahmen zu unterdrücken, andererseits Österreich-Ungarn die Möglichkeit zu bieten, sich von der gewissenhaften Durchführung dieser Maßnahmen Rechenschaft zu geben. Österreich-Ungarn bezwecke keine Gebietserwerbung, sondern lediglich die Erhaltung des Bestehenden (Österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr. 23). Darin, daß Berchtold mit dieser Erklärung die Initiative ergriff, lag ein bedeutendes Entgegenkommen. Der Umstand, daß allein Rußland gegenüber die Demarche in Belgrad in dieser Weise erläutert wurde, zeigte, daß die Wiener Regierung bereit war, auf das besondere Verhältnis Serbiens zu Rußland Rücksicht zu nehmen. Trotz dieses Entgegenkommens und der Erklärung über die Wiener Absichten ergriff jedoch Rußland am 25. Juli weitgehende militärische Maßnahmen gegen Österreich-Ungarn.

B. Der russische Europäisierungsvorschlag

Die russische Regierung richtete am 24. Juli das Ersuchen nach Wien, die Serbien gestellte Frist zu verlängern und den Mächten Gelegenheit zu geben, nach Prüfung der Untersuchungsergebnisse von Sarajevo ihrerseits der serbischen Regierung Ratschläge zu erteilen (Russisches Orangebuch Nr. 4). Die englische, deutsche, italienische und französische Regierung wurden gleichzeitig gebeten, den russischen Vorschlag in Wien zu unterstützen (Russisches Orangebuch Nr. 5). Es wurde also vorgeschlagen, daß Österreich-Ungarn seine gegen Serbien zu unternehmenden Schritte aufschieben solle, bis die Mächte das Material nachgeprüft hätten, das aus der Untersuchung gegen die Mörder von Sarajevo vorlag. Der Zweck dieses Vorgehens war einmal, die Wiener Sühneforderungen auf das Attentat und seine unmittelbaren Urheber zu beschränken. Damit sollte die großserbische Bewegung als solche tunlichst aus der Erörterung ausgeschaltet werden. Ferner sollte aber den Mächten die Entscheidung über die Berechtigung der österreichisch ungarischen Forderungen überlassen werden.
Sasonow begründete bekanntlich die letztere Forderung Pourtales gegenüber damit, daß Österreich nicht in eigener Sache Richter und Ankläger sein könne. Die in der Note behaupteten Tatsachen könne er (Sasonow) in keiner Weise als bewiesen ansehen, die Enquete flöße ihm vielmehr das größre Mißtrauen ein (Deutsche Dokumente Nr. 160). Daß der Gedanke Sasonows, nur die Gesamtheit der Mächte könne das Verhalten Serbiens aburteilen, "juristisch schwer haltbar sei", hat auch der französische Justizminister und stellvertretende Ministerpräsident zugegeben (Deutsche Dokumente Nr. 235). Politisch hätte diese Europäisierung bedeutet, daß die Frage der österreichisch-ungarischen Sühneforderungen zu einer Machtfrage zwischen den europäischen Bündnisgruppen wurde. Das war gerade, was man in Berlin im Interesse des Friedens vermeiden wollte. Diesen russischen Europäisierungsplan haben offenbar auch London und Paris abgelehnt. Daher war am 26. Juli bei der Aussprache zwischen Sasonow und Pourtales von einer "Revision der österreichischen Untersuchung durch Europa nicht mehr die Rede". (Deutsche Dokumente Nr. 217.)
Gegen die Forderung einer einfachen Fristverlängerung ließen sich Bedenken grundsätzlicher Art nicht erheben. Trotzdem sie sich grundsätzlich auf den Standpunkt der Nichteinmischung gestellt hatte, erklärte sich daher die deutsche Regierung am 25. Juli bereit, den russischen Wunsch nach Fristverlängerung nach Wien weiterzugeben, ebenso wie sie dies mit einem analogen englischen Vorschlag (Englisches Blaubuch Nr. 11, Deutsche Dokumente Nr. 157) bereits getan hatte (Russisches Orangebuch Nr. 14). Die Mitteilung unterblieb jedoch, anscheinend, weil inzwischen die Meldung einging, daß die österreichisch-ungarische Regierung diese russische Forderung abgelehnt habe (Deutsche Dokumente Nr. 178). Die englische, französische und italienische Regierung sandten ihren Botschaftern in Wien entsprechende Instruktionen (Englisches Blaubuch Nr. 26, Französisches Gelbbuch Nr. 39 und 44). Diese Weisungen gelangten jedoch nicht zur Ausführung (Englisches Blaubuch Nr. 40, Französisches Gelbbuch Nr. 48, Englisches Blaubuch Nr. 40).
Das Wiener Kabinett lehnte das russische Ersuchen am 25. Juli ab (österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr. 27, 29, 30, Russisches Orangebuch Nr. 11, 12), da "die von Rußland verlangte Verlängerung der Serbien zur Antwort auf die österreichisch-ungarischen Forderungen gestellten Frist der Belgrader Regierung die Möglichkeit zu neuen Winkelzügen und zur Verschleppung geboten und der Einmischung einzelner Mächte zu ihren Gunsten Tür und Tor geöffnet hätte" (österreichisch-ungarisches Rotbuch 1914, Einleitung).*) Gleichzeitig wurde jedoch dem russischen Geschäftsträger mitgeteilt, daß Serbien auch nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch uneingeschränkte Annahme der österreichisch-ungarischen Forderungen eine friedliche Lösung herbeiführen könne (österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr. 27).

C. Die Gefahren der russischen Haltung

Angesichts der militärischen Maßnahmen Rußlands wies die deutsche Regierung die Kabinette in London, Paris und Petersburg auf die Erklärung der österreichisch-ungarischen Regierung hin, daß sie keinen territorialen Gewinn in Serbien beabsichtige, den Bestand des Königreiches nicht antasten, sondern nur Ruhe schaffen wolle. Die englische und die französische Regierung wurden an die Gefahren erinnert, die eine russische Mobilmachung für den Frieden Europas bedeutete, und gebeten, in Petersburg einen mäßigenden und beruhigenden Einfluß auszuüben. Rußland gegenüber erklärte sich die deutsche Regierung bereit, den russischen Wunsch, daß der Bestand des serbischen Königreichs nicht angetastet werde, zu unterstützen, und betonte zugleich, daß eine Mobilisierung der russischen Armee unausbleiblich einen europäischen Krieg zur Folge haben müsse (Deutsche Dokumente 198, 199, 200, 219).
Dieser Schritt der deutschen Regierung begegnete in London keinem Entgegenkommen. Die englische Regierung war inzwischen von ihrem ursprünglichen Standpunkt der Nichteinmischung abgegangen und wünschte die Regelung des österreichisch-serbischen Konfliktes im Wege einer Botschafterkonferenz in London herbeizuführen. Das einzige bekannte Telegramm, das Grey am 26. und 27. Juli nach Petersburg richtete (Englisches Blaubuch Nr. 47), enthält keinerlei Rat zur Vorsicht oder Mäßigung (siehe auch Deutsche Dokumente Nr. 218, 236).
In Paris fand dagegen der deutsche Vorschlag zunächst eine günstige Aufnahme. Der deutsche Botschafter meldete unter dem 26. Juli:
Der stellvertretende Minister der auswärtigen Angelegenheiten versicherte mir, daß unser Appell an Solidarität des Bestrebens um Friedenserhaltung hier ungemein wohltuend berühre und gebührend beachtet werde. Er für seine Person sei gern bereit, in Petersburg beruhigend einwirken zu lassen, nachdem durch österreichisch-ungarische Versicherung, daß keine Annexion beabsichtigt, Vorbedingung geschaffen sei. Er könne mir allerdings

*) Berchtold erklärte bereits am'20. Juli dem Gesandten in Belgrad, als er ihm Verhaltungsmaßregeln gab, er könne "keinesfalls eine Verlängerung dieser Frist (von 48 Stunden) unter dem Vorwande, daß die serbische Regierung nähere Auskünfte über die Tragweite und den Sinn einzelner ... Forderungen zu erhalten wünsche, zugestehen", (österreichisches Rotbuch 1919, l, Nr. 28.)

noch nicht förmliche Erklärung namens der französischen Regierung über Modus der Einwirkung geben, da er zunächst mit abwesendem Ministerpräsidenten ins Benehmen treten müsse... (Deutsche Dokumente Nr. 235.)
Diese günstige Aufnahme verwandelte sich jedoch nachträglich in ihr Gegenteil. Der Schritt des deutschen Botschafters ist, ebenso wie der vom 24. Juli, im französischen Gelbbuch (Nr. 56 und besonders Nr. 57, 61, 62) entstellt wiedergegeben und verdächtigt worden. Die französische Regierung gab vor, der deutsche Vorschlag gemeinsamer Tätigkeit zur Erhaltung des Friedens sei ein Versuch, Frankreich einzuschüchtern (Russisches Orangebuch Nr. 29)? Frankreich und Rußland zu veruneinigen und Rußland dadurch bloßzustellen, daß die französische Regierung zu Vorstellungen in Petersburg verleitet würde (Russisches Orangebuch Nr. 35).
In Petersburg hatten die deutschen Mahnungen anscheinend Erfolg. Sasonow versicherte den deutschen Botschafter seiner Friedensliebe:
Minister bat mich, Euerer Exzellenz für beide Mitteilungen, die einen sehr guten Eindruck madhten, zu danken und dabei zu versichern, daß der Appell an unsere altbewährten guten Beziehungen warmen Widerhall bei ihm findet und ihn tief rührt. Euere Exzellenz könnten versichert sein, daß Rußland das Vertrauen in seine Friedensliebe nicht täuschen werde. Er sei bereit, in seinem Entgegenkommen gegen Österreich bis zur Grenze zu gehen und alle Mittel zu erschöpfen, um Krisis friedlicher Lösung entgegenzuführen (Deutsche Dokumente Nr. 282).
Die russischen Kriegsvorbereitungen wurden aber, wie sich bald herausstellen sollte, unverändert fortgesetzt. Am 27. und 28. Juli liefen zahlreiche Meldungen über Mobilmachungsmaßnahmen in allen Teilen Rußlands ein. Sogar in Kowno wurde der Kriegszustand erklärt (Deutsche Dokumente Nr. 264).

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Englands Stellungnahme zum austro-serbischen Konflikt

 

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