II.
Der österreichisch-serbische Konflikt
4. Die Haltung der Dreiverbandsmächte
Über die Haltung der Regierungen der Dreiverbandsmächte in der
Zeit vor Überreichung des österreichisch - ungarischen Ultimatums
ist aus naheliegenden Gründen wenig bekannt. Sie werden die Pressemeldungen
über die Untersuchung in Sarajevo verfolgt haben und besaßen,
wie bereits erwähnt, auch Berichte ihrer Wiener Vertreter über den bevorstehenden, von aller Welt erwarteten Schritt
in Belgrad. Sie kannten aber ferner, offenbar sehr viel besser als die
Berliner Regierung, die russischen Versprechungen an Serbien. Die Alliierten
und Assoziierten Mächte haben in Versailles in ihrer Note vom 16.
Juni 1919 ausdrücklich erklärt, daß das deutscherseits
vorgelegte Anklagematerial keine für sie neuen Tatsachen enthülle.
Infolgedessen mußte sie die Zuspitzung der austro-serbischen Beziehungen
mit Sorge erfüllen, wenn sie die Erhaltung des europäischen
Friedens wünschten. War ihnen die Gelegenheit zum Kriege als eine
günstige willkommen, dann lag es für sie von vornherein nahe,
die Konstellation auszunutzen, um Deutschland in eine Falle zu locken.
Der russischen Diplomatie war ihre Haltung bis zu einem gewissen Grade
durch die Beschlüsse der Petersburger Konferenz vom 8./21. Februar
1914 vorgeschrieben. Es heißt in dem betreffenden Protokoll: "Einen
günstigen politischen Boden (für die Operationen zur Besetzung
der Meerengen während eines europäischen Krieges) vorzubereiten,
bildet gegenwärtig die Aufgabe der zielbewußten Arbeit des
Ministeriums des Äußern". Es ist mehr als wahrscheinlich,
daß viele russische Politiker den Augenblick für diese Aktion
gekommen sahen, als sich Österreich-Ungarn durch sein übermäßig
schroffes Vorgehen gegen Serbien ins Unrecht setzte.
Die Ursache der Beunruhigung, die sich in England offenbarte, ist nicht
darauf zurückzuführen, daß man befürchtete, Serbien
könnte ein Unrecht geschehen. Man sah vielmehr, daß Österreich-Ungarns
Vorgehen Rußland veranlassen werde, wegen seiner geheimen Versprechungen
an Serbien einzuschreiten und unter nahezu allen Umständen einzugreifen.
Buchanan telegraphierte auch bereits am 18. Juli aus Petersburg, Sasonow
habe ihm unumwunden erklärt, ein Ultimatum Wiens an Belgrad könne
Rußland nicht hinnehmen. Es werde vielleicht (schon damals!) zu
vorbereitenden militärischen Maßnahmen greifen müssen
(Oman, S. 18).*) Aus Pokrowskis Veröffentlichungen wissen wir, daß
Grey in jener Zeit wiederholt im Sinne der Mäßigung auf Sasonow
einzuwirken suchte, und daß er ihn besonders auf die Möglichkeit
hinweisen ließ, daß die serbische Regierung nachlässig
gewesen sei, und die Untersuchung in Sarajevo ergeben könnte, der
Plan der Ermordung des Erzherzogs sei auf serbischem Gebiete ausgeheckt
worden (Telegramm nach Petersburg vom 20. Juli, Oman, S. 18).
In seiner Unterredung mit dem deutschen Botschafter vom gleichen Tage
(Deutsche Dokumente Nr. 92, Englisches Blaubuch
*) Bezeichnend für Sasonows späteres Verhalten ist, daß
er am gleichen Tage dem österreichisch-ungarischen Botschafter gegenüber
seinen Besorgnissen wegen der zu erwartenden Demarche in Belgrad nur sehr
unbestimmten Ausdruck gab (österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr.
25).
Nr. 1) sprach Grey von der Möglichkeit eines Krieges zwischen den
Großmächten als Folge des austro-serbischen Konfliktes. Er
sah eben die Gefahr, die in den russischen Versprechungen an Serbien lag,
ohne aber den Grund seiner Befürchtungen anzugeben. Am gleichen Tage
und dann wieder am 23. Juli (Oman, S. 19) sandte er nach Petersburg den
Rat, sich mit Wien zu verständigen.
Solche Vorschläge fielen aber nicht auf günstigen Boden. Poincare
und sein Ministerpräsident und Minister des Äußeren Viviani
befanden sich gerade damals in Petersburg. Über den Verlauf ihres
Besuches ist durch die Erinnerungen Paleologues zum ersten Male der Öffentlichkeit
Näheres bekannt geworden. Der ehemalige französische Botschafter
schildert zunächst die Unterredung, die er am 20. Juli mit dem Zaren
hatte, als beide dem französischen Präsidenten auf der russischen
Kaiseryacht entgegenfuhren. (A. a. O., S. 233.) Paleologue brachte das
Gespräch sogleich auf die Wahrscheinlichkeit eines nahen Krieges,
dessen Urheber Deutschland sein werde. Mögen auch diese Memoiren
vom Treppenwitz stark durchsetzt sein, so darf man immerhin als wahr ansehen,
daß die Petersburger Festlichkeiten mit Gesprächen über
den Krieg eingeleitet wurden. Der Mord von Sarajevo wird mit keinem Worte
berührt. In diesen Erinnerungen wird er ganz übergangen. In
diesem Falle sagte Paleologue dem Zaren sogar ausdrücklich: "Ich
bin beunruhigt, obwohl ich im Augenblick keinen speziellen Grund habe,
einen unmittelbar bevorstehenden Krieg vorherzusagen". Dabei beschäftigten
sich alle Kabinette Europas mit dem austro-serbischen Konflikt! Der französische
Botschafter aber erklärte dem Zaren, Deutschlands allgemeine Haltung
sei beunruhigend, seine Friedensliebe mehr als zweifelhaft. Es ist also
bereits am 20. Juli - wenn nicht schon früher - planmäßig
auf einen deutschrussischen Konflikt hingearbeitet worden. Paleologue
ist konsequent auf diesem Wege geblieben.
Poincare landete am 20. Juli in Kronstadt und traf am 21. Juli in Petersburg
ein. Die nun folgenden Festlichkeiten gaben Anlaß zu einer Reihe
kriegerischer Kundgebungen, die Paleologue mit erstaunlicher Offenherzigkeit
und großer Genugtuung aufzählt.
Am 21, Juli wurde das diplomatische Korps Poincare vorgestellt. Dieser
vermied es, dem deutschen Botschafter gegenüber ein politisches Thema
zu berühren. Dem Engländer setzte er dagegen auseinander, wie
notwendig es sei, den Dreiverband endlich in einen Dreibund umzuwandeln.
Hierauf folgte jene merkwürdige Unterredung mit dem österreichisch-ungarischen
Botschafter, die bereits aus den Berichten von Szapary und Pourtales bekannt
war. (österreichisches Rotbuch 1919, I. Nr. 45, Deutsche Dokumente
Nr. 131.) Mit seltener Taktlosigkeit verglich der Präsident die Untersuchung
von Sarajevo, deren Ausgang er nicht kannte, mit dem ergebnislosen Friedjungprozeß und dem Zwischenfall
Prochaska.
Ferner warnte er, "daß Serbien Freunde habe" und daß
durch die Forderung einer Sühne für den Mord von Sarajevo "eine
für den Frieden gefährliche Situation entstehen würde".
Nach Paleologue (a. a. O., S. 238) hätte er sogar gedroht: "Serbien
besitzt im russischen Volke einen sehr warmen Freund. Und Rußland
hat einen Verbündeten, Frankreich. Daraus können sich die gefährlichsten
Folgen ergeben!" Diese Äußerungen zeigen jedenfalls, daß
die russisch-französische Stellungnahme zum austro-serbischen Konflikte
in Petersburg zur Erörterung gelangt war. Welches die Haltung der
Franzosen gewesen ist, kann man daraus ersehen, daß Poincare im
Anschluß an sein Gespräch mit Szapary (am 21. Juli!) erklärte: "Sasonow muß fest bleiben, und wir
müssen ihn unterstützen". Auch zeichnete er bei diesem
Empfang den Serben vor allen anderen Gesandten aus und stärkte ihn
mit einigen Worten der Sympathie.
Über das Ergebnis der damaligen Petersburger Unterredungen ist nur
das bekannt, was die französische Regierung im Gelbbuch (Nr. 22)
zu veröffentlichen für gut fand. Danach wäre unter anderem
vereinbart worden, gemeinsam einen Rat zur Mäßigung in Wien
erteilen zu lassen und vor einer Bedrohung Serbiens zu warnen. Niemals
hätte ein derartiger Schritt, der keine praktischen Vorschläge
enthielt und keine Sicherheiten anbot, die angeblich beabsichtigte Wirkung
haben können. Er gelangte anscheinend, weil verspätet, nicht
zur Ausführung, jedoch berichtete Bunsen (am 23. Juli, siehe Oman,
S. 18), daß der russische Geschäftsträger am
22. Juli beauftragt gewesen sei, freundschaftlich, aber bestimmt, Österreich-Ungarn
davor zu warnen, an Serbien eine Note zu richten, die letzteres nicht
ohne Demütigung annehmen könne. Auch der französische Botschafter
sprach an diesem Tage auf dem Ministerium des Äußeren in Wien
vor. Dieser Schritt erfolgte offenbar auf Grund von Weisungen aus Paris
und stand deshalb möglicherweise mit dem russischen in Zusammenhang
(Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 53, Französisches Gelbbuch
Nr. 20).
Der "unversöhnliche Haß Sasonows gegen Österreich-Ungarn"
und sein frühzeitiges Bestreben, die Ergebnisse der Untersuchung
in Sarajevo in Zweifel zu ziehen, waren der deutschen Regierung aus der
Berichterstattung ihres Botschafters in Petersburg (Deutsche Dokumente
Nr. 53) bekannt. Die Erklärung des Ministers an Pourtales, "Rußland
würde einen Schritt in Belgrad, der es auf eine Erniedrigung Serbiens
absehe, nicht gleichgültig hinnehmen können", und seine
Äußerung zum italienischen Botschafter, "Rußland
würde es nicht dulden können, daß Österreich Serbien
gegenüber eine drohende Sprache führe oder militärische
Maßnahmen treffe", gelangten aber erst am 23. Juli nach Berlin
(Deutsche Dokumente
Nr. 120). Ebenso seine Drohung: "La politique de la Russie est pacifique,
mais pas passive". Wie wenig passiv diese Politik gewesen ist, zeigen
die russischen Machenschaften in Belgrad. Daß sie auch nicht friedfertig
war, sollte sich bald herausstellen.
Weiter:
Serbiens Antwortnote
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