Die Krisis 

Die Grundlinien der diplomatischen Verhandlungen bei Kriegsausbruch 

Von 

B. W. VON BÜLOW 

(1922)

II. Der österreichisch-serbische Konflikt

4. Die Haltung der Dreiverbandsmächte

Über die Haltung der Regierungen der Dreiverbandsmächte in der Zeit vor Überreichung des österreichisch - ungarischen Ultimatums ist aus naheliegenden Gründen wenig bekannt. Sie werden die Pressemeldungen über die Untersuchung in Sarajevo verfolgt haben und besaßen, wie bereits erwähnt, auch Berichte ihrer Wiener Vertreter über den bevorstehenden, von aller Welt erwarteten Schritt in Belgrad. Sie kannten aber ferner, offenbar sehr viel besser als die Berliner Regierung, die russischen Versprechungen an Serbien. Die Alliierten und Assoziierten Mächte haben in Versailles in ihrer Note vom 16. Juni 1919 ausdrücklich erklärt, daß das deutscherseits vorgelegte Anklagematerial keine für sie neuen Tatsachen enthülle. Infolgedessen mußte sie die Zuspitzung der austro-serbischen Beziehungen mit Sorge erfüllen, wenn sie die Erhaltung des europäischen Friedens wünschten. War ihnen die Gelegenheit zum Kriege als eine günstige willkommen, dann lag es für sie von vornherein nahe, die Konstellation auszunutzen, um Deutschland in eine Falle zu locken. Der russischen Diplomatie war ihre Haltung bis zu einem gewissen Grade durch die Beschlüsse der Petersburger Konferenz vom 8./21. Februar 1914 vorgeschrieben. Es heißt in dem betreffenden Protokoll: "Einen günstigen politischen Boden (für die Operationen zur Besetzung der Meerengen während eines europäischen Krieges) vorzubereiten, bildet gegenwärtig die Aufgabe der zielbewußten Arbeit des Ministeriums des Äußern". Es ist mehr als wahrscheinlich, daß viele russische Politiker den Augenblick für diese Aktion gekommen sahen, als sich Österreich-Ungarn durch sein übermäßig schroffes Vorgehen gegen Serbien ins Unrecht setzte.
Die Ursache der Beunruhigung, die sich in England offenbarte, ist nicht darauf zurückzuführen, daß man befürchtete, Serbien könnte ein Unrecht geschehen. Man sah vielmehr, daß Österreich-Ungarns Vorgehen Rußland veranlassen werde, wegen seiner geheimen Versprechungen an Serbien einzuschreiten und unter nahezu allen Umständen einzugreifen. Buchanan telegraphierte auch bereits am 18. Juli aus Petersburg, Sasonow habe ihm unumwunden erklärt, ein Ultimatum Wiens an Belgrad könne Rußland nicht hinnehmen. Es werde vielleicht (schon damals!) zu vorbereitenden militärischen Maßnahmen greifen müssen (Oman, S. 18).*) Aus Pokrowskis Veröffentlichungen wissen wir, daß Grey in jener Zeit wiederholt im Sinne der Mäßigung auf Sasonow einzuwirken suchte, und daß er ihn besonders auf die Möglichkeit hinweisen ließ, daß die serbische Regierung nachlässig gewesen sei, und die Untersuchung in Sarajevo ergeben könnte, der Plan der Ermordung des Erzherzogs sei auf serbischem Gebiete ausgeheckt worden (Telegramm nach Petersburg vom 20. Juli, Oman, S. 18).
In seiner Unterredung mit dem deutschen Botschafter vom gleichen Tage (Deutsche Dokumente Nr. 92, Englisches Blaubuch

*) Bezeichnend für Sasonows späteres Verhalten ist, daß er am gleichen Tage dem österreichisch-ungarischen Botschafter gegenüber seinen Besorgnissen wegen der zu erwartenden Demarche in Belgrad nur sehr unbestimmten Ausdruck gab (österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 25).

Nr. 1) sprach Grey von der Möglichkeit eines Krieges zwischen den Großmächten als Folge des austro-serbischen Konfliktes. Er sah eben die Gefahr, die in den russischen Versprechungen an Serbien lag, ohne aber den Grund seiner Befürchtungen anzugeben. Am gleichen Tage und dann wieder am 23. Juli (Oman, S. 19) sandte er nach Petersburg den Rat, sich mit Wien zu verständigen.
Solche Vorschläge fielen aber nicht auf günstigen Boden. Poincare und sein Ministerpräsident und Minister des Äußeren Viviani befanden sich gerade damals in Petersburg. Über den Verlauf ihres Besuches ist durch die Erinnerungen Paleologues zum ersten Male der Öffentlichkeit Näheres bekannt geworden. Der ehemalige französische Botschafter schildert zunächst die Unterredung, die er am 20. Juli mit dem Zaren hatte, als beide dem französischen Präsidenten auf der russischen Kaiseryacht entgegenfuhren. (A. a. O., S. 233.) Paleologue brachte das Gespräch sogleich auf die Wahrscheinlichkeit eines nahen Krieges, dessen Urheber Deutschland sein werde. Mögen auch diese Memoiren vom Treppenwitz stark durchsetzt sein, so darf man immerhin als wahr ansehen, daß die Petersburger Festlichkeiten mit Gesprächen über den Krieg eingeleitet wurden. Der Mord von Sarajevo wird mit keinem Worte berührt. In diesen Erinnerungen wird er ganz übergangen. In diesem Falle sagte Paleologue dem Zaren sogar ausdrücklich: "Ich bin beunruhigt, obwohl ich im Augenblick keinen speziellen Grund habe, einen unmittelbar bevorstehenden Krieg vorherzusagen". Dabei beschäftigten sich alle Kabinette Europas mit dem austro-serbischen Konflikt! Der französische Botschafter aber erklärte dem Zaren, Deutschlands allgemeine Haltung sei beunruhigend, seine Friedensliebe mehr als zweifelhaft. Es ist also bereits am 20. Juli - wenn nicht schon früher - planmäßig auf einen deutschrussischen Konflikt hingearbeitet worden. Paleologue ist konsequent auf diesem Wege geblieben.
Poincare landete am 20. Juli in Kronstadt und traf am 21. Juli in Petersburg ein. Die nun folgenden Festlichkeiten gaben Anlaß zu einer Reihe kriegerischer Kundgebungen, die Paleologue mit erstaunlicher Offenherzigkeit und großer Genugtuung aufzählt.
Am 21, Juli wurde das diplomatische Korps Poincare vorgestellt. Dieser vermied es, dem deutschen Botschafter gegenüber ein politisches Thema zu berühren. Dem Engländer setzte er dagegen auseinander, wie notwendig es sei, den Dreiverband endlich in einen Dreibund umzuwandeln. Hierauf folgte jene merkwürdige Unterredung mit dem österreichisch-ungarischen Botschafter, die bereits aus den Berichten von Szapary und Pourtales bekannt war. (österreichisches Rotbuch 1919, I. Nr. 45, Deutsche Dokumente Nr. 131.) Mit seltener Taktlosigkeit verglich der Präsident die Untersuchung von Sarajevo, deren Ausgang er nicht kannte, mit dem ergebnislosen Friedjungprozeß und dem Zwischenfall Prochaska. Ferner warnte er, "daß Serbien Freunde habe" und daß durch die Forderung einer Sühne für den Mord von Sarajevo "eine für den Frieden gefährliche Situation entstehen würde". Nach Paleologue (a. a. O., S. 238) hätte er sogar gedroht: "Serbien besitzt im russischen Volke einen sehr warmen Freund. Und Rußland hat einen Verbündeten, Frankreich. Daraus können sich die gefährlichsten Folgen ergeben!" Diese Äußerungen zeigen jedenfalls, daß die russisch-französische Stellungnahme zum austro-serbischen Konflikte in Petersburg zur Erörterung gelangt war. Welches die Haltung der Franzosen gewesen ist, kann man daraus ersehen, daß Poincare im Anschluß an sein Gespräch mit Szapary (am 21. Juli!) erklärte: "Sasonow muß fest bleiben, und wir müssen ihn unterstützen". Auch zeichnete er bei diesem Empfang den Serben vor allen anderen Gesandten aus und stärkte ihn mit einigen Worten der Sympathie.
Über das Ergebnis der damaligen Petersburger Unterredungen ist nur das bekannt, was die französische Regierung im Gelbbuch (Nr. 22) zu veröffentlichen für gut fand. Danach wäre unter anderem vereinbart worden, gemeinsam einen Rat zur Mäßigung in Wien erteilen zu lassen und vor einer Bedrohung Serbiens zu warnen. Niemals hätte ein derartiger Schritt, der keine praktischen Vorschläge enthielt und keine Sicherheiten anbot, die angeblich beabsichtigte Wirkung haben können. Er gelangte anscheinend, weil verspätet, nicht zur Ausführung, jedoch berichtete Bunsen (am 23. Juli, siehe Oman, S. 18), daß der russische Geschäftsträger am 22. Juli beauftragt gewesen sei, freundschaftlich, aber bestimmt, Österreich-Ungarn davor zu warnen, an Serbien eine Note zu richten, die letzteres nicht ohne Demütigung annehmen könne. Auch der französische Botschafter sprach an diesem Tage auf dem Ministerium des Äußeren in Wien vor. Dieser Schritt erfolgte offenbar auf Grund von Weisungen aus Paris und stand deshalb möglicherweise mit dem russischen in Zusammenhang (Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 53, Französisches Gelbbuch Nr. 20).
Der "unversöhnliche Haß Sasonows gegen Österreich-Ungarn" und sein frühzeitiges Bestreben, die Ergebnisse der Untersuchung in Sarajevo in Zweifel zu ziehen, waren der deutschen Regierung aus der Berichterstattung ihres Botschafters in Petersburg (Deutsche Dokumente Nr. 53) bekannt. Die Erklärung des Ministers an Pourtales, "Rußland würde einen Schritt in Belgrad, der es auf eine Erniedrigung Serbiens absehe, nicht gleichgültig hinnehmen können", und seine Äußerung zum italienischen Botschafter, "Rußland würde es nicht dulden können, daß Österreich Serbien gegenüber eine drohende Sprache führe oder militärische Maßnahmen treffe", gelangten aber erst am 23. Juli nach Berlin (Deutsche Dokumente Nr. 120). Ebenso seine Drohung: "La politique de la Russie est pacifique, mais pas passive". Wie wenig passiv diese Politik gewesen ist, zeigen die russischen Machenschaften in Belgrad. Daß sie auch nicht friedfertig war, sollte sich bald herausstellen.

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Serbiens Antwortnote

 

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