IV.
Der österreichisch-russische Konflikt
3. Rußlands Unnachgiebigkeit
Bezeichnend für die Haltung der russischen Regierung gegenüber
dem österreichisch-serbischen Konflikt ist der Umstand, daß
der Minister des Äußern seinen Standpunkt im Laufe der kritischen
Tage andauernd geändert hat. Seine Sprache gegenüber dem österreichisch-ungarischen
Botschafter wurde zwar scheinbar versöhnlicher, tatsächlich
schraubte er aber seine Forderungen mehr und mehr hinauf und erfand immer
neue Einwände an Stelle derer, die von der Wiener Regierung aus dem
Wege geräumt waren.
Sasonow hat am 24. Juli Pourtales erklärt, das, was Rußland
nicht gleichgültig hinnehmen könne, wäre die eventuelle
Absicht Österreichs, "Serbien zu verschlingen" (Deutsche
Dokumente Nr. 160, 204). Am 25. Juli sagte der Minister dem englischen
Bot-
schafter, Rußland könne nicht zulassen, daß Österreich
Serbien zermalme und die Vormacht auf dem Balkan würde.- Er sprach
bei dieser Gelegenheit von der Eventualität eines militärischen
Vorgehens Österreich-Ungarns gegen Serbien, ohne irgendwelche Folgerungen
für Rußland daraus zu ziehen (Englisches Blaubuch Nr. 17).
Auch gegenüber dem italienischen Botschafter beschränkte sich
Sasonow am gleichen Tage nach Angabe des französischen Gelbbuches
(Nr. 52) auf die Erklärung, man könne von Rußland nicht
verlangen, zuzulassen, daß Serbien zertreten werde.
Am 26. Juli äußerte Sasonow zu Pourtales, Rußland "könne
eine Herabwürdigung Serbiens zum Vasallenstaat Österreichs unmöglich
dulden" (Deutsche Dokumente Nr. 217). Noch am selben Tage erhielt
er durch Szapary erneut beruhigende Zusicherungen über die Absichten
Österreich-Ungarns. Es handele sich ebensowenig um einen Vorstoß
auf dem Balkan, wie um die Absicht, mit Rußland Händel zu suchen.
Daß Österreich-Ungarn keinen territorialen Gewinn anstreben
und auch nicht die Souveränität Serbiens anzutasten gedächte,
war ihm ebenfalls zugesichert worden (Deutsche Dokumente Nr. 238, 339).
Infolge dieser Aussprachen, die durch Unterredungen mit , Pourtales ergänzt
wurden, trat eine merkliche Entspannung der diplomatischen Lage ein (Deutsche
Dokumente Nr. 282), die auch der englische und französische Botschafter
am 27. Juli feststellten (Englisches Blaubuch Nr. 55, Französisches
Gelbbuch Nr. 64). Sasonow formulierte an diesem Tage Buchanan gegenüber
seine Forderungen dahin, daß die territoriale Integrität Serbiens
und seine Rechte als die eines souveränen Staates gewährleistet
werden müßten, so daß es kein Vasalenstaat Österreichs
würde. Auch Pourtales gegenüber verlangte er nur die Schonung
der serbischen Souveränitätsrechte, während er zugab, daß
Serbien eine "Lektion" verdient habe.
Diese Entspannung sollte aber nicht von langer Dauer sein. Am 26. und
27. Juli wurden in Rußland umfassende militärische Maßnahmen
getroffen. Auch in Paris, das bis dahin eine friedfertige Haltung gezeigt
hatte, trat ein Stimmungsumschlag ein, der in dem Telegramm Bienvenu-Martins
an den Ministerpräsidenten vom 27. Juli (Französisches Gelbbuch
Nr. 62) zum Ausdruck kommt. Am gleichen Tage sicherte Grey überdies
dem russischen Botschafter unter Hinweis auf die Kriegsbereitschaft der
Flotte "diplomatische" Unterstützung zu (Englisches Blaubuch
Nr. 47). Benckendorff konnte berichten, daß Greys Sprache "viel
klarer, merkbar fester" geworden sei.
Als Folge dieser Vorgänge änderte Sasonow am 28. Juli, sobald
er von der Kriegserklärung an Serbien erfuhr, seine Sprache und gab
wieder Befürchtung vor wegen der Zerschmetterung Serbiens
und der Einnahme einer beherrschenden Stellung auf dem Balkan durch Österreich-Ungarn.
Er verlangte jetzt die unverzügliche Einstellung der (noch gar nicht
begonnenen) militärischen Operationen gegen Serbien (Russisches Orangebuch
Nr. 48, Englisches Blaubuch Nr. 70). Die erhaltenen Zusicherungen bezüglich
Serbiens Unabhängigkeit Und Integrität waren, so erklärte
er nunmehr dem englischen Botschafter, unbefriedigend, falls Serbien von
Österreich-Ungarn angegriffen werde; der Mobilmachungsbefehl gegen
Österreich werde an dem Tage ausgegeben werden, an dem Österreich
die serbische Grenze überschritte (Englisches Blaubuch Nr. 72). Dieses
Ereignis wartete die russische Regierung jedoch keineswegs ab, sondern
schritt ungesäumt zur vollständigen Mobilisierung von vier Armeebezirken
gegen Österreich-Ungarn. Dem englischen Botschafter gegenüber
aber stellte Sasonow am 29. Juli das Verlangen nach einer nachträglichen
Feststellung oder Erklärung, um den scharfen Ton des Ultimatums herabzustimmen
(Englisches Blaubuch Nr. 78). Er forderte also nunmehr ein Zurückweichen
Österreich-Ungarns vor der russischen Drohung. Szapary gegenüber
behauptete er jedoch, Wien lehne jeden weiteren Gedankenaustausch ab.
Als dieser Irrtum ihm als solcher nachgewiesen und er an die bereits erhaltenen
Versprechungen erinnert wurde, erklärte er endlich, in territorialer
Hinsicht habe er sich überzeugen lassen, was aber die serbische Souveränität
anbelange, müsse er an dem Standpunkt festhalten, daß die Aufzwingung
der österreichisch-ungarischen Bedingungen für Serbien ein Vasallentum
bedeute (Österreichisches Rotbuch 1919, III, Nr. 19). Ebenso sagte
er zu Pourtales, "Rußlands vitale Interessen verlangten nicht
nur Schonung der territorialen Integrität Serbiens, sondern auch,
daß Serbien nicht durch Annahme der seine Souveränitätsrechte
antastenden österreichischen Forderungen zum Vasallenstaat Österreichs
herabsinke. Serbien dürfe kein Buchara werden". (Deutsche Dokumente
Nr. 412.) Dem englischen und französischen Botschafter erklärte
er unter Bezugnahme auf dies Gespräch, auch die deutsche Bürgschaft,
daß Österreich-Ungarn die serbische Integrität respektieren
werde, genüge ihm nicht (Englisches Blaubuch Nr. 97). Als "äußerstes
Maß des Entgegenkommens" stellte der Minister am 30. Juli die
sogenannte Sasonowformel (Deutsche Dokumente Nr. 421, Russisches Orangebuch
Nr. 60) auf, in der von Österreich-Ungarn die Aufgabe aller jener
Forderungen verlangt wurde, die (nach russischer Ansicht) die souveränen
Rechte Serbiens verletzten. Unter diesen Umständen wäre Rußland
bereit, seine militärischen Vorbereitungen einzustellen. Diese Bedingungen
sind in Berlin als (für Österreich-Ungarn) unannehmbar angesehen
worden (Russisches Orangebuch Nr. 63). Auch Grey suchte ihre Abänderung
zu erreichen (Englisches Blaubuch Nr. 103). Sogar Poincare ist der Ansicht gewesen, daß Wien diese Forderungen nicht annehmen werde (Englisches
Blaubuch Nr. 99).
Trotz der, allerdings sehr wenig energischen, Bitte Greys, seine Forderung
im Sinne der englischen Vorschläge, die formell auch von Frankreich
befürwortet wurden (siehe Französisches Gelbbuch Nr. 112), abzuändern
und Österreich-Ungarn so viel Spielraum zu lassen, daß es durch
Besetzung Belgrads oder eines anderen Faustpfandes Sicherheit für
die zu gewährende Genugtuung erlange (Englisches Blaubuch Nr. 103),
milderte Sasonow am 31. Juli seine Formel nur unwesentlich. Er begnügte
sich nunmehr mit der Festsetzung der von Serbien zu gewährenden Genugtuung
durch die Großmächte*), verlangte aber die Einstellung der
Operationen gegen Serbien, während er seinerseits lediglich eine
abwartende Haltung in Aussicht stellte (Russisches Orangebuch Nr. 67).
Die russische Mobilmachung sollte als auf jeden Fall ihren Fortgang nehmen.
In jener Zeit hatten die österreichisch-ungarischen Truppen die Donau
und Save noch nicht überschritten. Die russische Formel bedeutete
also die Ablehnung des von Berlin und London ausgegangenen Vorschlages,
daß Österreich-Ungarn nach Besetzung Belgrads oder eines anderen
Gebietsteiles als Faustpfand die Vermittlung der Mächte annehmen
solle. Der Minister war selbst mit einer formellen Erklärung, Österreich-Ungarn
werde weder das serbische Territorium schmälern, noch die serbische
Souveränität antasten, noch russische Balkan- oder sonstige
Interessen verletzen, nicht zufrieden gestellt (Österreichisches
Rotbuch 1919, III, Nr. 74). Nachdem seine sonstigen Bedenken durch österreichische
Zusicherungen
zerstreut waren, verschanzte er sich hinter der angeblichen Befürchtung
eines serbischen Vasallentums, weil er wußte, daß einer derartigen
unbeweisbaren und unwiderlegbaren Behauptung mit keinen greifbaren Garantien
entgegengetreten werden konnte. Als schließlich Wien die direkten
Besprechungen mit Petersburg auf Drängen Deutschlands wieder aufgenommen
hatte (Österreichisches Rotbuch 1919, III, Nr. 44, Englisches Blaubuch
Nr. 133), machte Sasonow in seinen Runderlassen vom 2. August (Russisches
Orangebuch Nr. 77 und 78) die "Würde Serbiens" geltend,
zu deren Wahrung
*) Ursprünglich hatte Sasonow gefordert, daß Österreich-Ungarn
nachträglich die Note vom 23. Juli abändere ("sich bereit
erkläre, aus seinem Ultimatum die Punkte zu entfernen, die die souveränen
Rechte Serbiens antasten"; Deutsche Dokumente Nr. 421). Auf Drängen
Lichnowskys hat Grey jene für eine Großmacht unannehmbare Forderung
gestrichen (Deutsche Dokumente Nr. 439, 460). Sasonow gab in diesem
Punkte
nach, nicht jedoch in dem ungleich wichtigeren der Besetzung Belgrads.
Übrigens ist die sogenannte zweite Sasonowformel, entgegen dem Anschein
des russischen Orangebuchs (Nr. 67), weder der deutschen noch der österreichisch-ungarischen
Regierung mitgeteilt worden.
Rußland die Maßnahmen treffen müsse, die sich für
die ganze Welt so verhängnisvoll erwiesen haben.
Von seinem Standpunkte aus hatte Sasonow freilich vollkommen recht: Rußland
konnte eine Demütigung der Belgrader Regierung nicht zulassen, wenn
es Serbien weiter als Sturmbock gegen Österreich-Ungarn benutzen
wollte. Der russische Kriegswille entstand somit nicht spontan unter dem
Eindruck des Ultimatums vom 23. Juli, er wurzelte vielmehr in der seit
Jahren von Petersburg getriebenen Balkanpolitik.
Daß aber die serbische Frage für Rußland nicht mehr die
entscheidende war, nachdem es sich zur allgemeinen Mobilisation entschlossen
hatte, hat Sasonow selbst erklärt. Er telegraphierte am 2. August
nach London:
Ein anderer Ausweg wäre mit unserer eigenen Würde gänzlich
unvereinbar und würde natürlich das europäische Gleichgewicht
durch Befestigung der Hegemonie Deutschlands erschüttern. Dieser
europäische und Welt-Charakter des Konflikts ist unendlich wichtiger,
als der Anlaß, der ihn geschaffen hat (Russisches Orangebuch Nr.
78).
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