Die Krisis 

Die Grundlinien der diplomatischen Verhandlungen bei Kriegsausbruch 

Von 

B. W. VON BÜLOW

(1922)

V. Die deutsch-russische Krise

3. Die russische Gesamtmobilmachung

Am 29. Juli mittags teilte Sasonow dem deutschen Botschafter mit, daß die russische Mobilmachung gegen Österreich-Ungarn beschlossen sei und in wenigen Stunden veröffentlicht werden solle. Der Botschafter bezeichnete diesen Schritt als für den Frieden äußerst gefährlich und wies, wie er dies schon wiederholt an den vorhergehenden Tagen getan hatte, darauf hin, daß die Mobilmachung gegen Österreich-Ungarn sich auch gegen Deutschland richte, da Deutschlands vertragsmäßige Verpflichtungen gegen diese Macht allgemein bekannt seien (Deutsche Dokumente Nr. 343).
Noch am gleichen Tage wurde jedoch die Gesamtmobilmachung beschlossen*). Mit dem Befehl des Zaren in der Tasche, versicherte der russische Generalstabschef um 3 Uhr nachmittags dem deutschen Militärattache, in den militärischen Vorkehrungen Rußlands sei keine Änderung eingetreten. Nirgends sei bisher eine Mobilmachung erfolgt und werde auch an den deutschen Grenzen nicht beabsichtigt (Deutsche Dokumente Nr. 370).

*) Rene Puaux, Les Etudes de la Guerre, Heft 2, S. 131. (Amtliche russische Mitteilung vom 5. September 1917.)

Abends zwischen 6 und 7 Uhr warnte der deutsche Botschafter gemäß dem Telegramm vom selben Tage (Deutsche Dokumente Nr. 342) erneut vor den Folgen einer Mobilmachung (Deutsche Dokumente Nr. 378). Sasonow hat diese Mitteilung sehr erregt entgegengenommen und sie, obwohl ihr Inhalt genau mit den früheren Warnungen übereinstimmte, als Drohung ausgelegt, die er als Rechtfertigung der bereits beschlossenen Mobilmachung gegen Deutschland zu benutzen suchte. Er telegraphierte nach Paris und London:
Der deutsche Botschafter erklärte mir heute den Beschluß seiner Regierung, die eigene Mobilisierung durchzuführen, wenn Rußland die von ihm betriebenen militärischen Vorbereitungen nicht einstellt. Indessen sind diese von uns nur infolge der bereits stattgefundenen Mobilisation von acht Korps in Österreich und infolge der offenbaren Unlust des letzteren, auf irgendwelche Weise der friedlichen Beilegung des eigenen Streites mit Serbien zuzustimmen, vorgenommen worden.
Da wir den Wunsch Deutschlands nicht erfüllen können, bleibt es uns nur übrig, unsere Bewaffnung zu beschleunigen und mit der wahrscheinlichen Unvermeidlichkeit des Krieges zu rechnen. Wollen Sie die französische Regierung davon in Kenntnis setzen und ihr gleichzeitig unseren aufrichtigen Dank aussprechen für die mir gegenüber im Namen der französischen Regierung erfolgte Erklärung des französischen Botschafters, daß wir im vollen Maße auf die Unterstützung des verbündeten Frankreichs, rechnen können. Unter den gegenwärtigen Umständen ist diese Erklärung für uns besonders wertvoll. Es wäre äußerst wünschenswert, daß auch England, ohne Zeit zu verlieren, sich Frankreich und Rußland anschließt, denn nur auf diese Weise wird es ihm gelingen, die gefährliche Störung des europäischen Gleichgewichts abzuwenden. (Prawda Nr. 7 vom 9. März 1919, Russisches Orangebuch Nr. 58.)
Ebenso wie er dem Verbündeten gegenüber den Sachverhalt fälschte, um den Eintritt des Bündnisfalles auch formell herbeizuführen, gab Sasonow dem Zaren eine falsche Darstellung der Erklärung des deutschen Botschafters. Dies geht deutlich aus dem Telegramm des Zaren an den Kaiser vom 29. Juli abends hervor, in dem es heißt: "Danke für Dein versöhnliches und freundschaftliches Telegramm. Dagegen war die heute von Deinem Botschafter meinem Minister übergebene offizielle Mitteilung in einem ganz anderen Tone gehalten." (Deutsche Dokumente Nr. 366.) Der Unterschied "bestand lediglich in der Auslegung Sasonows, nicht im Wortlaut der Telegramme. Denn abgesehen davon, daß dienstliche Telegramme naturgemäß anders stilisiert werden als persönliche Mitteilungen regierender Herrscher, besteht kein Widerspruch zwischen der Warnung, "daß weiteres Fortschreiten der russischen Mobilmachungsmaßnahmen Deutschland zur Mobilmachung zwingen würde, und daß dann der europäische Krieg kaum noch aufzuhalten sein werde", und den Worten Kaiser Wilhelms: "Natürlich würden militärische Maßnahmen von seiten Rußlands, die Österreich als Drohung ansehen würde, ein Unheil beschleunigen, das wir beide zu vermeiden wünschen, und meine Stellung als Vermittler gefährden. ..". Das Telegramm des Kaisers enthält sogar eine weitergehende Mahnung als das des Kanzlers.
Der Zar ist anscheinend von Anfang der Krise an zum Kriege gedrängt worden. Bereits am 29. Juli telegraphierte er dem Kaiser: "Ich sehe voraus, daß ich sehr bald dem auf mich ausgeübten Druck erliegen und gezwungen sein werde, äußerste Maßnahmen zu ergreifen, die zum Kriege führen werden." (Deutsche Dokumente Nr. 332.) Noch am gleichen Tage erlag er dem Druck und genehmigte die Gesamtmobilmachung. Abends ging dann in Petersburg das Telegramm ein, in dem der Kaiser erklärte, daß er den Wunsch des Zaren nach Erhaltung des Friedens teile, und daß die deutsche Regierung ihre Bemühungen fortsetze, eine direkte Verständigung zwischen Petersburg und Wien zu fördern (Deutsche Dokumente Nr. 359). Die Wirkung dieses "versöhnlichen und freundschaftlichen Telegramms" auf den Zaren ist aus den Verhandlungen des Suchomlinowprozesses bekannt. Der Zar rief in der Nacht vom 29. zum 30. Juli sowohl den Kriegsminister wie auch den Generalstabschef telephonisch an, und befahl, die allgemeine Mobilmachung rückgängig zu machen und es bei der Teilmobilmachung gegen Österreich-Ungarn bewenden zu lassen. Die beiden Generäle beschlossen, diesem Befehl nicht Folge zu leisten. Zusammen mit Sasonow stimmten sie am folgenden Tage den Zaren um, und die Gesamtmobilmachung nahm ihren Fortgang. Der russische Generaladjutant Fürst Trubetzkoi erklärte am 30. Juli dem General von Chelius, das Telegramm des Kaisers habe einen tiefen Eindruck auf den Zaren gemacht, aber dieser könne leider nichts mehr ändern, denn die Mobilisierung gegen Österreich sei bereits befohlen worden, und Sasonow habe wohl den Zaren überzeugt, daß ein Zurückweichen nicht mehr möglich sei (Deutsche Dokumente Nr. 445). Doch sagte er nichts von einer allgemeinen Mobilmachung. Pourtales berichtete ebenfalls am 30. Juli, "daß das Telegramm des Kaisers seine Wirkung auf den Zaren nicht verfehlt habe, daß aber Sasonow eifrig bemüht sei, daran zu arbeiten, daß der Zar fest bleibe". (Deutsche Dokumente Nr. 401.) Die Gesamtmobilmachung wurde den 30. Juli über geheim gehalten. Sasonow verhandelte mit dem deutschen Botschafter über die Vermittlung in Wien und stellte die bekannte Formel auf, die in ihrer Anmaßung bereits von den Entschlüssen zeugte, die jede Vermittlungstätigkeit vereiteln sollten. Die allgemeine Mobilmachung verschwieg er.
Diese Geheimhaltung des Mobilmachungsbeschlusses ist vielleicht auf den Rat Vivianis vom 30. Juli zurückzuführen, "bei den Vorsichts- und Verteidigungsmaßnahmen unmittelbar keinerlei Anordnungen zu treffen, die Deutschland einen Vorwand zu einer ganzen oder teilweisen Mobilmachung seiner Kräfte bieten würden".
(Französisches Gelbbuch Nr. 101.) Im gleichen Sinne berichtete Iswolski unter Nr. 210, ebenfalls am 30. Juli:
Margerie (Direktor im Ministerium des Äußern), den ich eben gesprochen habe, sagte mir, die französische Regierung, die sich keineswegs in unsere militärischen Vorbereitungen einmischen will, würde in Anbetracht der fortgesetzten Verhandlungen wegen Wahrung des Friedens es für äußerst wünschenswert halten, daß diese Vorbereitungen einen möglichst wenig offenen und herausfordernden Charakter tragen. Der Kriegsminister, der denselben Gedanken entwickelte, sagte seinerseits Graf Ignatjew (dem russischen Militärattache), wir könnten erklären, daß wir im höchsten Interesse des Friedens bereit seien, die Mobilisationsmaßnahmen zeitweilig zu verlangsamen, was uns nicht hindern würde, die militärischen Vorbereitungen fortzusetzen und sie sogar zu verstärken, indem wir uns nach Möglichkeit der Massentruppentransporte enthalten. (Prawda Nr. 7 vom 9. März 1919.)
Dieser Freundesrat blieb aber unbeachtet. Am 31. Juli früh prangten die Mobilmachungsanschläge an allen Straßenecken Petersburgs. Jeder Zweifel war nunmehr ausgeschlossen, und der deutsche Botschafter meldete die Tatsache der allgemeinen Mobilmachung nach Berlin (Deutsche Dokumente Nr. 473). Zugleich unternahm er von sich aus Schritte, um die Rückgängigmachung dieses verhängnisvollen Befehls zu erwirken (Deutsche Dokumente Nr. 535, 539). Diese Schritte hatten keinen Erfolg.
Die russische Regierung suchte auch jetzt noch die Tatsache der Gesamtmobilmachung im Ausland geheim zu halten, vermutlich, um die deutschen Gegenmaßnahmen als eine Herausforderung hinstellen zu können, wie dies in Frankreich mit Erfolg geschehen ist. Asquith erklärte am 31. Juli im Unterhaus: "Wir haben soeben, nicht aus Petersburg, sondern aus Deutschland erfahren, daß Rußland eine allgemeine Mobilmachung seines Heeres und seiner Flotte verkündet hat." (Deutsche Dokumente Nr. 576; vgl. auch Nr. 518). Sogar der russische Botschafter in Berlin war ohne Nachricht (Belgisches Graubuch, II, Nr. 20). Nur in Paris wußte man Bescheid. Abends um 7 Uhr erklärte zwar die französische Regierung, noch keine Kenntnis der Mobilmachung zu haben (Deutsche Dokumente Nr. 528, Französisches Gelbbuch Nr. 117). Aber diese Angabe war erlogen. Denn Iswolski hat am 31. Juli berichtet, am Morgen sei ein Telegramm von Paleologue eingetroffen, "das die volle Mobilisation der russischen Armee ohne jede Ausnahme bestätigt". (Prawda Nr. 7, vom 9. März 1919.)
Von den zahlreich einlaufenden Mobilmachungsmeldungen der Botschaft und der Konsulate in Rußland abgesehen, war die deutsche Regierung auf die russische Gesamtmobilmachung nicht vorbereitet. Der Kaiser äußerte am 1. August zum österreichischungarischen Legationsrat Graf Larisch, "daß die Tatsache der allgemeinen Mobilmachung Rußlands ihn vollkommen überrascht hätte", (österreichisches Rotbuch 1919, III, Nr. 84.) Sasonow hat niemals von dieser Möglichkeit gesprochen. Russischerseits war vielmehr wiederholt versichert worden, daß eine Mobilmachung gegen Deutschland nicht in Frage komme. Dieser Umstand ist wesentlich zur Beurteilung der russischen Absichten, und zweifellos wird man damals in Berlin gerade aus der Unaufrichtigkeit dieser Erklärungen den Kriegswillen Rußlands gefolgert haben. Während die Teilmobilisation russischerseits nach Berlin mitgeteilt und dort begründet bzw. entschuldigt wurde, erfolgte keinerlei Erklärung über die allgemeine Mobilmachung. Es wurde der deutschen Regierung überlassen, ihre eigenen - freilich sehr naheliegenden - Schlüsse zu ziehen. Die russische Regierung hat diesen Schritt niemals angekündigt und, selbst als er aller Welt bekannt war, mit keinem Worte Deutschland gegenüber erläutert.
Für Rußland und seine Verbündeten ist es immer eine Ursache größter Verlegenheit gewesen, daß sich die russische Gesamtmobilmachung in keiner Weise vor den Augen der Welt rechtfertigen ließ. Die österreichisch-ungarische Gesamtmobilmachung erfolgte später als die russische. Der Hinweis auf bedrohliche deutsche Maßnahmen, die vorangegangen wären (Deutsche Dokumente Nr. 459, 462, Englisches Blaubuch Nr. 113, Französisches Gelbbuch Nr. 118), war von vornherein unglaubwürdig und konnte nicht aufrecht erhalten werden. Schon während des Weltkrieges hat die Anklagepropaganda des Feindbundes immer daran gekrankt, daß die Gesamtmobilmachung Rußlands den Ausbruch des Krieges verschuldet hat, und daß diese Maßnahme lediglich vom Willen zum Kriege diktiert war. Da keinerlei Rechtfertigung gelingen wollte, hat man auf seiten des Feindbundes versucht, den Petersburger Entschluß zur allgemeinen Mobilmachung auf ein Extrablatt zurückzuführen, das am 30. Juli mittags vom Berliner Lokal-Anzeiger herausgegeben wurde und die bekannte Falschmeldung von der Mobilisierung des Heeres und der Flotte Deutschlands enthielt. Viscount Grey of Fallodon (Sir E. Grey) hat am 23. Oktober 1916 in einer Ansprache an fremde Pressevertreter erklärt: "Rußland hat die Mobilmachung, über die sich Deutschland beschwerte, erst verfügt, ... als in Deutschland eine Meldung über die deutsche Mobilmachung verbreitet und nach Petersburg telegraphiert worden war". Damit hat er den Eindruck hervorrufen wollen, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Falschmeldung des Lokal-Anzeigers und dem russischen Mobilmachungsbefehl bestanden hätte. Nun läßt sich aber nachweisen, daß das durch die Falschmeldung veranlaßte Telegramm des russischen Botschafters (Russisches Orangebuch Nr. 61) erst in Petersburg eingetroffen sein kann, nachdem der Zar den einmal widerrufenen Befehl zur allgemeinen Mobilmachung bereits endgültig bestätigt hatte, also einen vollen Tag nach dem tatsächlichen Beginn dieser Mobilmachung.
Der vom russischen Botschafter abgesandte Widerruf seiner ersten Meldung (Russisches Orangebuch Nr. 62, ebenso wie ein noch zeitiger abgegangenes Telegramm in offener Sprache) ist zudem höchst wahrscheinlich früher in Petersburg eingetroffen, als seine Falschmeldung*). Russischerseits hat man sich auch niemals auf dieses Extrablatt berufen. Sasonow ist nicht darauf zu sprechen gekommen, obwohl er noch dreimal mit dem deutschen Botschafter zusammenkam. Der Zar hat es weder Pourtales gegenüber noch in seinem Telegramm an den König von England vom 1. August erwähnt, obwohl auch er sicherlich gerne einen Grund angegeben hätte, der seinen verhängnisvollen Schritt rechtfertigen könnte. Überdies läßt sich der Nachweis führen, daß Grey seine Anschuldigung wider besseres Wissen erhoben hat. Es ist für diesen Staatsmann bezeichnend, daß seine Erklärung zwar dem Buchstaben nach richtig war (wenn man sie auf die endgültige Genehmigung der Mobilmachung, nicht auf ihren tatsächlichen Beginn bezieht), die von ihm erweckte Vorstellung aber bewußt falsch.
Einzelne unserer Gegner haben versucht, Deutschland eine "heimliche Mobilmachung" nach russischem Muster anzudichten. Selbst die Schuldkommission der Pariser Friedenskonferenz hat sich diese ganz unhaltbare Behauptung zu eigen gemacht. Von Verschwörungen und eigenmächtigen Handlungen militärischer Stellen ist auch in anderen Darstellungen die Rede. Sie setzen eine völlige Unkenntnis deutscher Verhältnisse und der technischen Seite der Frage voraus. Die Mobilmachung des deutschen Heeres beruhte auf den Bestimmungen des Mobilmachungsplanes und vollzog sich auf Grund der eingehenden, auf ihn gestützten Vorarbeiten aller militärischen und der in Betracht kommenden zivilen Stellen. Der Befehl zur Mobilmachung mußte durch den Kaiser selbst erfolgen. Der Kriegsminister hatte den Befehl weiterzugeben und war für seine Durchführung verantwortlich. Die Behauptung, daß in Deutschland eine "heimliche" Mobilmachung ohne Wissen des Kaisers und der verantwortlichen politischen Stellen stattgefunden habe, bedarf keiner weiteren Widerlegung. Aber auch die Vorstellung, daß die berufenen Stellen schon vor der amtlichen Bekanntgabe heimlich mit der Mobilmachung begonnen hätten, ist sinnlos und unbegründet. Bei der Stärke eines modernen Heeres, das auf der allgemeinen Wehrpflicht aufgebaut ist, muß die Mobilmachung auf breitester Grundlage erfolgen. Für Deutschland kam, infolge seiner geographischen Lage mit wenigstens zwei bedrohten Fronten, die Notwendigkeit hinzu, von vornherein die Kräfte des Landes in weitgehendem Maße in Anspruch zu nehmen. Die Wir-

*) Siehe die ausführlichen Darlegungen von Montgelas im Berliner Tageblatt vom 7. und 15. Juli 1921.

kung einer solchen Mobilmachung auf das gesamte Wirtschaftsleben des Staates ist naturgemäß so einschneidend und lähmend, daß sich ihr tatsächlicher Beginn nicht in Heimlichkeit vollziehen kann, selbst wenn die Nachrichtenübermittlung in das Ausland gleichzeitig weitgehend unterbunden würde. Denn diese letztere Maßnahme müßte Aufsehen erregen und durch sich selbst verraten, was sie verbergen wollte.
Ein glatter, schneller Verlauf der Mobilmachung gewährt einen Vorsprung über den Gegner und damit die Möglichkeit, die Feindseligkeiten früher zu eröffnen, Das kann für den ganzen späteren Verlauf des Krieges von einschneidender Bedeutung sein. Dieses glatte Abspielen der Mobilmachung muß somit durch eingehende Maßnahmen bis ins kleinste vorbereitet sein. Geordnete Verwaltungsverhältnisse und gesunder Staatsorganismus erleichtern sie. Je besser und reibungsloser der Gang der Maschine gewährleistet ist, desto länger kann der Beginn der Mobilmachung ohne Nachteil hinausgeschoben werden gegenüber Gegnern, die auf Grund innerer Verhältnisse ihre Vorbereitungen lückenhafter getroffen haben oder für die Durchführung der Mobilmachung mehr Zeit gebrauchen und mehr Reibungen zu überwinden haben.
Es gibt im Laufe des militärischen Ausbildungsjahres Zeiten, die eine Mobilmachung erschweren, z. B. die Zeit der Rekrutenausbildung, die Übungen größerer Verbände auf Truppen-Übungsplätzen, die Abwesenheit der Truppen aus ihren Standorten anläßlich der Herbstübungen. Dementsprechend gibt es eine Reihe von Maßnahmen, die bezwecken, den für die Mobilmachung günstigen Normalzustand herbeizuführen: die Rückberufung der Urlauber, das Abbrechen von Übungen außerhalb der Garnisonen, die Rückkehr der Truppen in ihre Standorte. Diese Maßnahmen bedeuten aber noch keine Mobilmachung. Ferner kann der Verlauf der Mobilmachung durch feindliche Einwirkungen gestört oder verlangsamt werden, z. B. durch plötzlichen Überfall, durch Zerstörung von Eisenbahnkunstbauten u. a. m. Diesen Störungen durch Bewachung wichtiger Bahnbauten usw. und durch verstärkte Grenzüberwachung vorzubeugen, ist von Wichtigkeit. Aber auch diese Maßnahmen sind lediglich vorbeugender Art.
Selbst die Anwendung der im vorstehenden geschilderten Maßnahmen muß vorher organisiert werden. Das hat in Deutschland dazu geführt, für den Fall starker politischer Spannung den Eintritt der "Drohenden Kriegsgefahr" vorzusehen. Wenn also politische Gründe für die Möglichkeit eines baldigen Kriegsausbruches sprachen, bedurfte es nur des Befehls "Drohende Kriegsgefahr", um das Inkrafttreten der oben angedeuteten Maßnahmen zu veranlassen. Andere Länder hatten entsprechende Einrichtungen.
Bei dem hohen Stande der deutschen Mobilmachungsvorbereitungen konnte die Ausführung der geplanten Maßnahmen ohne Bedenken hinausgeschoben werden, bis die Absicht der Gegner einwandfrei festgestellt war. Dies ist 1914 geschehen. Aus der im Anhang beigefügten Mobilmachungstabelle geht hervor, daß Deutschland die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen und die Mobilmachung selbst wesentlich später als seine Nachbarn angeordnet hat.
Durch die allgemeine Mobilmachung in Rußland wurde die deutsche Regierung vor eine schwere Entscheidung gestellt. Nicht nur Rußland hatte mobilisiert, auch in Frankreich waren die Kriegsvorbereitungen weit vorgeschritten. Deutschland hatte seinerseits lediglich Maßnahmen vorbeugender Art getroffen. Es waren (am
29. Juli) die Truppen von den Übungsplätzen in ihre Garnisonen zurückbeordert und die Urlauber zurückberufen worden. Am 30. Juli wurde mit der Aufstellung des Grenzschutzes begonnen. Keinerlei Mobilmachungsbefehl war ergangen. Nunmehr wurde, am 31. Juli mittags, "Drohende Kriegsgefahr" verkündet und Rußland in einem mit zwölf Stunden befristeten Ultimatum aufgefordert, seine Kriegsmaßnahmen einzustellen (Deutsche Dokumente Nr. 490). Es erschien notwendig, von der russischen Regierung hierbei auch die Einstellung der gegen Österreich-Ungarn getroffenen Maßnahmen zu verlangen, um der Antwort vorzubeugen, die Mobilmachung sei lediglich gegen Österreich gerichtet (Jagow zu Goschen, Englisches Blaubuch Nr. 121). Da aus Petersburg keinerlei Antwort einging, wurde der deutsche Botschafter am 1. August angewiesen, den Krieg zu erklären (Deutsche Dokumente Nr. 542). Diesen Auftrag führte er am 1. August, 7 Uhr abends, aus (Deutsche Dokumente Nr. 588, Russisches Orangebuch Nr. 76).
Es hat niemals irgendein Zweifel darüber bestehen können, daß die Gesamtmobilmachung der russischen Armee den Krieg mit Deutschland bedeuten würde. Auch im Lager unserer Gegner urteilte man nicht anders.
Die Schöpfer der französisch-russischen Militärkonvention waren sich von Anfang an klar darüber, daß "auf die Mobilmachung in Frankreich und in Rußland sofort entscheidende Taten, kriegerische Handlungen folgen müßten, die Mobilmachung sei mit einem Worte untrennbar von einem Angriff". (L'Alliance franco-russe Nr. 42, Anlage.) Nach dem französischen Gelbbuch über die französisch-russische Allianz (Nr. 71) erklärte der französische General Boisdeffre am 18. August 1892 bei den Verhandlungen über die Militärkonvention dem Zaren Alexander III., daß die Mobilmachung der Kriegserklärung gleichkomme. Mobilisieren heiße, seinen Gegner zwingen, das gleiche zu tun. Die Mobilmachung habe die Ausführung der strategischen Transporte und der Truppenzusammenziehungen zur Folge. Eine Million Mann an seiner Grenze mobilisieren lassen, ohne gleichzeitig dasselbe zu tun, hieße sich jeder Möglichkeit der Sicherung begeben. Es hieße sich in die Lage eines Menschen zu versetzen, der mit einer Pistole in der Tasche sich die seines Nachbarn an die Stirn drücken ließe, ohne die seine hervorzuziehen. Der Zar Alexander pflichtete dieser Auffassung bei. Im Artikel 2 der französisch-russischen Militärkonvention von 1892 verpflichten sich die Verbündeten: sofort) gleichzeitig und vollständig zu mobilisieren, sobald der Dreibund oder eines seiner Mitglieder mobilmache, und alsbald an den Grenzen aufzumarschieren. Im Artikel 3 wird dann die Stärke der Truppen bestimmt, die beiderseits gegen Deutschland (sic!) aufzubieten sind. Anschließend heißt es dann: "Die Streitkräfte sind ungesäumt zu entscheidendem Kampfe einzusetzen (ces forces s'engageront a fond, en toute diligeance), so daß Deutschland (sic!) gezwungen wird, zugleich im Osten und Westen zu kämpfen". (3. Französisches Gelbbuch, L'Alliance franco-russe, Nr. 71.) Hier ist wiederum gesagt, ja sogar vertraglich festgelegt: Mobilmachung ist Krieg. Die russische oder die französische Mobilmachung hatte für Deutschland den sofortigen Krieg auf zwei Fronten gleichzeitig zur Folge.
Der Aufmarsch der zahlenmäßig weit überlegenen russischen Streitkräfte bedeutete eine Bedrohung, welche die deutsche Regierung niemals und unter keinen Umständen untätig mit ansehen konnte. Es mußten in solchem Falle unbedingt Gegenmaßregeln getroffen werden, und diese Gegenmaßregeln konnten nur in einem kriegerischen Vorgehen bestehen. Denn, wie der ganzen Welt bekannt war, lag die Überlegenheit der deutschen Armee in ihrer größeren Beweglichkeit. Die Sicherheit des Reiches beruhte auf der schnellen Mobilmachung. Die Aussicht der deutschen Truppen, den Millionenheeren des Zaren erfolgreich zu begegnen, begründete sich mit der Möglichkeit, sie nach rascher vollzogenem Aufmarsch zu schlagen, ehe sie vollständig zusammengezogen waren. Dies wußte alle Welt.
Rußland war es bekannt. Um Deutschland gegenüber einen möglichst großen Vorsprung zu gewinnen, wurde die Tatsache der Mobilmachung zunächst ängstlich geheim gehalten. Die diplomatischen Verhandlungen scheinen zum sehr großen Teil den Zweck verfolgt zu haben, die militärischen Vorbereitungen Rußlands zu verschleiern. Dementsprechend heißt es in dem "Protokoll einer besonderen Beratung über die vorbereitenden Kriegsarbeiten bezüglich Organisation des rückwärtigen Dienstes an der Südwestfront gemäß Plan A", Petersburg, den 8. November 1912:
Es ist unbedingt erforderlich, daß die Anordnung, die Verkündung der Mobilmachung sei auch die Verkündung des Krieges, geändert wird. Eine solche Anordnung kann zu schweren Mißverständnissen in den Beziehungen zu denjenigen Mächten führen, mit denen auf Grund dieser oder jener politischen Umstände Krieg oder die Eröffnung der Feindseligkeiten wenigstens nicht gleich von Anfang an, beabsichtigt ist.
Andererseits kann es sich als vorteilhaft erweisen, den Aufmarsch zu vollziehen, ohne die Feindseligkeiten zu beginnen, damit dem Gegner nicht unwiederbringlich die Hoffnung genommen wird, der Krieg könne noch vermieden werden. Unsere Maßnahmen müssen hierbei durch diplomatische Scheinverhandlungen maskiert werden, um die Befürchtungen des Gegners möglichst einzuschläfern.
Wenn solche Maßnahmen die Möglichkeit geben, einige Tage zu gewinnen, so müssen sie unbedingt ergriffen werden. ("Rußlands Mobilmachung für den Weltkrieg", Anlage 5.)
In seinen Erinnerungen (S. 260) gibt Paleologue den dramatischen, aber höchstwahrscheinlich apokryphen Wortlaut des Gespräches zwischen dem Zaren und Sasonow wieder, das am Nachmittag des 30. Juli der endgültigen Genehmigung der allgemeinen Mobilmachung vorangegangen ist. Beide Teilnehmer sind sich vollkommen klar darüber, daß dieser Schritt den Krieg bedeutet.
In Frankreich haben sich Politiker und Militärschriftsteller seit Begründung des Zweibundes mit jener Frage beschäftigt, und Milliarden französischen Geldes sind allein zu dem Zwecke verausgabt worden, die russische Mobilmachung zu beschleunigen.
In England war man sich über diese Lage der Dinge nicht weniger im klaren. Der englische Botschafter hat, wie bereits erwähnt, am 25. Juli Sasonow die ernste Hoffnung ausgesprochen, Rußland werde nicht durch Mobilisierung den Krieg beschleunigen. Er warnte ihn, wie das englische Blaubuch (Nr. 17) angibt, daß, wenn Rußland mobilisiere, Deutschland nicht mit bloßer Mobilisierung zufrieden sein, noch Rußland Zeit lassen werde, die seinige auszuführen, sondern wahrscheinlich sogleich den Krieg erklären werde.
Die deutsche Regierung hat über ihre Haltung im Falle einer russischen Mobilmachung von Anfang an keinen Zweifel gelassen und frühzeitig darauf hingewiesen, daß eine derartige Bedrohung der Sicherheit des Reiches nicht nur allen Verhandlungen ein Ende bereiten, sondern auch unabwendbar zum Kriege führen müsse. Auf die ersten sicheren Nachrichten von russischen Kriegsvorbereitungen an der deutschen Grenze hin hat der Reichskanzler den Botschaftern in Petersburg, Paris und London am 26. Juli jene inhaltlich gleichlautenden Telegramme gesandt (Deutsche Dokumente Nr. 198, 199, 200), in denen er auf die ernsten Folgen hinwies, die ein derartiges Vorgehen haben müsse. Frankreich und England wurden gebeten, einen beruhigenden Einfluß auf Rußland auszuüben. In einem weiteren Telegramm nach Petersburg vom gleichen Tage heißt es wörtlich: "Die Mobilisierung aber bedeutet den Krieg." (Deutsche Dokumente Nr. 219.)
Der französische Botschafter hat bereits am 29. Juli nach Paris berichtet, der russische Generalstab nehme an, daß der deutsche Mobilmachungsbefehl am 30. Juli ergehen werde. (Bericht an den französischen Senat - 704/1919 - S. 43, Anm.) Man erwartete ihn offenbar als sofortige Antwort auf die russische Teilmobilmachung. Er ist jedoch erst zwei Tage später erfolgt, am Tage nach dem Bekanntwerden der russischen Gesamtmobilmachung. Als am 31. Juli die Meldung des deutschen Botschafters einlief, daß in Rußland die allgemeine Mobilmachung angeordnet sei, hat Deutschland weder sofort seinerseits mobilisiert, noch sogleich den Krieg erklärt. Die deutsche Regierung sah sich aber genötigt, "Drohende Kriegsgefahr" zu verkünden und in Form eines Ultimatums Einstellung der militärischen Maßnahmen zu verlangen. Die russische Regierung ließ diese Aufforderung unbeantwortet. Sasonow erklärte dem deutschen Botschafter, die Mobilmachung könne nicht mehr aufgehalten werden (Deutsche Dokumente Nr. 536). Das gleiche sagte der Zar in seinem Telegramm vom 31. Juli (Deutsche Dokumente Nr. 487)*). Am 1. August gab er die Notwendigkeit der deutschen Mobilmachung zu. Noch ehe diese befohlen worden war, telegraphierte der Zar an Kaiser Wilhelm: "Ich verstehe, daß Du gezwungen bist, mobil zu machen." (Deutsche Dokumente Nr. 546.) Er fand aber nicht die Kraft, sich gegen den Willen seiner Ratgeber aufzulehnen, um das Verhängnis aufzuhalten. Auch ein letzter Versuch des deutschen Botschafters, den Zaren zur Abwendung des Krieges zu bewegen, blieb vergebens (Deutsche Dokumente Nr. 535).
An Rußlands Willen, den Weltkrieg herbeizuführen, konnte mit dem Augenblick kein Zweifel mehr bestehen, wo die Petersburger Regierung sich zur allgemeinen Mobilmachung entschloß. Diese Absicht bestätigt auch das vorerwähnte Telegramm Sasonows nach London vom 2. August 1914, in dem er seinen Schritt zu rechtfertigen suchte. Er telegraphierte:
Deutschland ist offen bemüht, die Verantwortung für den Bruch auf uns zu schieben. Unsere allgemeine Mobilmachung ist durch die riesige Verantwortung hervorgerufen, die auf uns fallen würde, wenn wir nicht alle Vorsichtsmaßregeln treffen würden, während Österreich sich auf Verhand- -lungen, die den Charakter des Aufschubs trugen, beschränkend, Belgrad bombardiert. Der Zar verpflichtete sich durch das Wort vor dem deutschen

*) "Die militärische Begründung, die Zurücknahme einer Mobilmachung sei technisch unmöglich, ist zwar nicht wörtlich dahin zu verstehen, daß ein solcher Gegenbefehl überhaupt nicht durchführbar sei, aber die Unterbrechung oder Einstellung einer Massenmobilmachung ruft derartige Störungen in den militärischen Vorbereitungen und im Verkehrswesen hervor, daß der betreffende Staat für längere Zeit in einen Zustand operativer Unterlegenheit gerät, den während politischer Krisen kein Staatsmann wird verantworten können." Montgelas, Glossen, S. 29.

Kaiser, daß er keine herausfordernden Handlungen unternehmen werde, solange die Verhandlungen mit Österreich fortgesetzt werden. Nach einer solchen Bürgschaft und nach allen Friedensbeweisen Rußlands hatte Deutschland gar kein Recht und konnte nicht unsere Behauptung bezweifeln, daß wir mit Freude jede friedliche Lösung, die mit der Würde und der Unabhängigkeit Serbiens vereinbar ist, annehmen würden. Ein anderer Ausweg wäre mit unserer eigenen Würde gänzlich unvereinbar und würde natürlich das europäische Gleichgewicht durch Befestigung der Hegemonie Deutschlands erschüttern. Dieser europäische und Weltcharakter des Konfliktes ist unendlich wichtiger als der Anlaß, der ihn geschaffen hat. (Prawda Nr. 7 vom 9. März 1919, Russisches Orangebuch Nr. 78).
Weil Rußland in erster Linie die Prestigefrage im Auge hatte, wollte es nicht die Tage und Stunden warten, die eine diplomatische Lösung des Konfliktes ermöglicht hätten.
Das vom Zaren in seinem Telegramm vom 31. Juli (Deutsche Dokumente Nr. 487) gegebene Ehrenwort, die russischen Truppen würden keine herausfordernde Aktion unternehmen, solange die Verhandlungen mit Österreich-Ungarn andauerten, konnte den bedrohlichen Charakter der russischen Mobilmachung in keiner Weise verringern. Denn es hätte ja ganz in Rußlands Hand gelegen, diese Verhandlungen zum Scheitern zu bringen, sobald seine gewaltigen Heere fertig aufmarschiert waren, um dann mit erdrückender Übermacht in Deutschland einzufallen. Bethmann Hollweg telegraphierte am 31. Juli nach London:
Eine russische mobilisierte Armee an unserer Grenze, ohne daß wir mobilisiert haben, ist auch ohne "provocative action" eine Lebensgefahr für uns. Die Provokation, deren sich Rußland dadurch schuldig gemacht hat, daß es in einem Augenblick gegen uns mobilisiert hat, wo wir auf seine Bitten in Wien vermittelten, ist überdies so stark, daß kein Deutscher es verstehen würde, wenn wir dagegen nicht mit scharfen Maßregeln antworteten. (Deutsche Dokumente Nr. 529.)
Am 2. August telegraphierte er:
Widerspruch zwischen den nicht anzuzweifelnden Erklärungen des Zaren und Handlungen seiner Regierung im ganzen Verlauf der Krisis so offenkundig, und Haltung der Regierung trotz entgegenstehender Versicherungen faktisch so unfreundlich, daß wir uns trotz Versicherung Zaren durch Gesamtmobilmachung schwer provoziert fühlen mußten. (Deutsche Dokumente Nr. 696.)
Die gegen Österreich-Ungarn gerichtete Mobilmachung bedeutete bereits für unseren Verbündeten eine sehr ernste Gefahr. Bei einer solchen teilweisen Mobilmachung hätte Rußland aber mit dem Angriff zögern müssen, solange es nicht gegen Deutschland gerüstet war, da es wußte, daß Deutschland in diesem Falle mobilisieren und seinem Bundesgenossen zu Hilfe kommen würde. Eine derartige Rückversicherung bestand für das Reich nicht, sowie die russische Mobilmachung allgemein war. Deshalb sind auch alle Vergleiche mit der russischen und österreichisch-ungarischen Mobilisation im Jahre 1912 hinfällig*). Keine Großmacht stand bereit, für Deutschland ins Feld zu ziehen, wenn die russischen Heere sich in Marsch setzten, während im Gegenteil andere Mächte auf diesen Augenblick warteten, um ebenfalls über uns herzufallen. Deshalb konnte das Versprechen des Zaren Deutschland keine Sicherheit bieten. Es bedurfte auch nicht erst der Enthüllungen des Suchomlinowprozesses, um zu zeigen, wie wenig damals das Wort des Zaren in Rußland galt. Denn, obwohl Kaiser Wilhelm am 1. August in seinem letzten Telegramm an den Zaren (Deutsche Dokumente Nr. 600) diesen dringend bat, seine Truppen anzuweisen, auf keinen Fall die deutsche Grenze zu verletzen, fielen noch am selben Tage russische Abteilungen in deutsches Gebiet ein. (Deutsche Dokumente Nr. 629, 662, 664, Untersuchungsausschuß, Heft 2, S. 16, Anm.)
Im übrigen mag das Wort regierender Herrscher in jenen Tagen in Berlin niedrig im Kurse gestanden haben, nachdem sich die Zusage des Königs von England an Prinz Heinrich, England werde sich in einem europäischen Konflikt neutral verhalten (Deutsche Dokumente Nr. 207, 374), als gänzlich wertlos erwiesen hatte. Kaiser Wilhelm zum mindesten scheint das Wort König Georgs ernst genommen zu haben (Deutsche Dokumente Nr. 474; siehe auch seine Aufzeichnung für den amerikanischen Botschafter vom 10. August 1914).
Rußlands allgemeine Mobilmachung bedeutete den Krieg, und zwar den Weltkrieg, denn an dem Eingreifen Frankreichs bestand kein Zweifel. Auch über die Haltung Englands war man sich in Berlin offenbar im klaren, trotz der zuletzt widerspruchsvollen Berichterstattung Lichnowskys. Von den Versuchen abgesehen, den Krieg auf Rußland zu beschränken, sind daher alle politischen Handlungen vom 31. Juli mittags an als Kriegsmaßnahmen anzusprechen, bzw. als Versuche, die bestmöglichen Vorbedingungen für den bevorstehenden Kampf zu schaffen. Unter der Wirkung der ungeheuren Erregung und der beginnenden Kriegspsychose

*) Auch Montgelas (Glossen, S. 24) erklärt jeden Vergleich zwischen den Mobilmachungen, die 1912/13 in Österreich-Ungarn und Rußland stattfanden, und denen des Jahres 1914 für unzulässig. "Im ersteren Falle handelt es sich um Maßnahmen, die auf Grund von Sonderbefehlen allmählich die Präsenzstärke bei einer Anzahl von Truppenteilen erhöhten, von einem Aufmarsch, das ist die Versammlung außerhalb der Friedensgarnisonen an den bedrohten Grenzen, jedoch absahen... Im Jahre 1914 aber werden die für bestimmte Kriegsfälle vorgesehenen Mobilmachungsbefehle erlassen, auf Grund deren nach lange festgelegtem, sorgfältig vorbereitetem Plane nicht nur die Ergänzung der Truppen auf Kriegsstärke, sondern auch die Beschaffung des gesamten Kriegsgeräts und in unmittelbarem Anschluß daran, teilweise schon gleichzeitig damit, der Aufmarsch durchgeführt werden, die kriegerischen Operationen beginnen sollten".

ist dann manches geschehen, das befremden muß und sicherlich besser unterblieben wäre.
Die Auseinandersetzung mit Frankreich und der Versuch, England wenigstens vorläufig neutral zu erhalten, werden weiter unten zu behandeln sein. Die nächsten Aufgaben der politischen Leitung waren, sich mit den Verbündeten zu verständigen, wenn möglich, neue Bundesgenossen zu werben und neutrale Staaten zu einer wohlwollenden Haltung zu bewegen. Die weitere Aufgabe, Deutschlands Recht auf Selbstverteidigung der öffentlichen Meinung der Welt gegenüber zu vertreten und den Charakter des Krieges als Defensivkrieg vor der Geschichte zu dokumentieren, ist nicht genügend berücksichtigt und jedenfalls nicht mit Erfolg gelöst worden.
Es scheint zunächst eine gewisse Besorgnis geherrscht zu haben, ob Österreich-Ungarn auch sofort seine Hauptkräfte gegen Rußland einsetzen und den Aufmarsch gegen Serbien abbrechen werde (Deutsche Dokumente Nr. 503, 627). Bereits am 29. Juli war in Berlin eine Verbalnote übergeben worden, in der es heißt: "Der Chef des k. u. k. Generalstabs hält es nun für unbedingt geboten, ohne Verzug Klarheit darüber zu gewinnen, ob wir mit starken Kräften gegen Serbien marschieren können oder unsere Hauptmacht gegen Rußland zu verwenden haben werden." (Deutsche Dokumente Nr. 352.) In Berlin hoffte man aber bis zuletzt auf einen günstigen Ausgang der Vermittlungsaktion und ging auf die Frage des Generals von Conrad nicht ein. Hieraus entstand bei Kriegsausbruch ein gewisses Dilemma. Auch ist die späte Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Rußland (5. August, Deutsche Dokumente Nr. 878, 879) auf den Wunsch zurückzuführen, die nunmehr recht verwickelte Mobilmachung ungestört durchführen zu können (Deutsche Dokumente Nr. 772). Russischerseits herrschte übrigens das gleiche Bestreben (Deutsche Dokumente Nr. 704).
Obwohl die Haltung Italiens nicht zweifelhaft sein konnte, wurde von Berlin aus der Appell an die Bundestreue immer wieder erneuert (Deutsche Dokumente Nr. 492, 628, 694). Auch wurde der Flügeladjutant von Kleist entsandt, um insbesondere auf den König einzuwirken (Deutsche Dokumente Nr. 745, 771, 850). Ob Italien überhaupt in der Lage gewesen wäre, seinen Vertragspflichten nachzukommen, erscheint zweifelhaft. Sicher ist, daß das hartnäckige Festhalten des Wiener Kabinetts an seiner verfehlten Auslegung des Art. VII des Dreibundvertrages jede Möglichkeit ausschloß. Die italienische Regierung hat bereits frühzeitig darauf hingewiesen, daß ihre Auffassung darüber, ob der Bündnisfall gegeben sei oder nicht, von der Frage der Kompensationen abhängig sein werde (Deutsche Dokumente Nr. 150). Österreich-Ungarns Hartnäckigkeit und seine Abneigung gegen den erpresserischen Verbündeten ließ alle deutschen Bemühungen scheitern.
Auch darüber bestand kein Zweifel, daß Rumänien seinen Bündnisverpflichtungen nicht nachkommen werde. Trotzdem wurde alles versucht, die rumänische Regierung zum Eingreifen zu veranlassen. Um ihr dies zu ermöglichen, wurde Bulgarien zu bindenden Erklärungen über seine Haltung gedrängt (Deutsche Dokumente Nr. 544, 549, 729). Man verstieg sich auch zu einem Angebot Bessarabiens als Belohnung für erfüllte Bundespflicht (Deutsche Dokumente Nr. 506, 830). In Anbetracht der intimen Beziehungen zwischen Rom und Bukarest war aber nicht daran zu denken, daß Rumänien eine andere Haltung einnehmen werde als Italien (Deutsche Dokumente Nr. 868).
Die noch schwebenden Verhandlungen über ein Bündnis mit der Türkei wurden sofort zum Abschluß gebracht (Deutsche Dokumente Nr. 508, 547, 726). Auch der Vertragsschluß mit Bulgarien wurde beschleunigt (Deutsche Dokumente Nr. 673, 697).
Von Dänemark wurde nichts anderes als eine neutrale Haltung erwartet (Deutsche Dokumente Nr. 494), ebenso von Holland (Deutsche Dokumente Nr. 674) und der Schweiz (Deutsche Dokumente Nr. 500). Dagegen scheint man mit der Möglichkeit gerechnet zu haben, daß Schweden in den Krieg eingreifen könnte (Deutsche Dokumente Nr. 123, 319, 406, 520). In der Mitteilung nach Stockholm, daß Finnland von russischen Truppen entblößt sei (Deutsche Dokumente Nr. 552), liegt die Aufforderung versteckt, sich dieser ehemals schwedischen Provinz zu bemächtigen. Es bedarf keiner Ausführung, wie aussichtslos ein derartiges Vorgehen war. Kooperation im Kriegsfalle ist nur nach gründlichen politischen und militärischen Vorbereitungen denkbar. An solchen Vorbereitungen für den Weltkrieg hat es jedoch deutscherseits ganz gefehlt.
Die Aussichtslosigkeit allein hielt aber die Berliner Regierung nicht vom Versuch ab; hat sie doch sogar Japan aufgefordert, "in richtiger Würdigung des großen Momentes die gegebenen Konsequenzen zu ziehen" (Deutsche Dokumente Nr. 545). In Wien wollte man bereits am 23. Juli (!) Tokio "auf die sich bietende günstige Gelegenheit" aufmerksam machen (österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 70).
Die Festsetzung des Termins für die Mobilmachung muß als rein militärische Frage angesehen werden. Ursprünglich wurde anscheinend der 2. August für den Beginn der Mobilmachung in Aussicht genommen (Deutsche Dokumente Nr. 479). Weshalb dieser Beschluß geändert worden ist, geht aus den Deutschen Dokumenten nicht hervor.
Daß nach der Kriegserklärung der Generalstab ausgiebig zu Worte kam, ist nur natürlich. Die Vorschläge, die er anbrachte, sind aber zum Teil sehr befremdlich. Der Gedanke, Indien, Ägypten, Südafrika, Polen und den Kaukasus zu revolutionieren, mutet an wie ein schlechter Roman (Deutsche Dokumente Nr. 662, 751, 876). Die Dokumente geben nur einige Beispiele des sinnlosen Vorgehens militärischer Stellen, wie die Absicht der "Verhaftung verschiedener hoher luxemburgischer Beamter" (Deutsche Dokumente Nr. 684) und des geplanten Vorgehens des Oberkommandos in den Marken gegen die französische Botschaft (Deutsche Dokumente Nr. 721). Man kann nur sagen: "Wehe, wenn sie losgelassen!" Andererseits ist diese Planlosigkeit und das Fehlen eines engen Zusammenhanges zwischen politischer und militärischer Leitung ein weiterer Beweis dafür, daß der Krieg nicht von langer Hand vorbereitet, also auch nicht gewollt war.
Daß die Verletzung der luxemburgischen und belgischen Neutralität nur aus militärischen Gründen erfolgte, geht aus den Deutschen Dokumenten einwandfrei hervor. Hierüber abschließend zu urteilen, wird erst möglich sein, wenn die Geschichte des Schlieffenplanes und seiner Behandlung bekannt wird. Man möchte annehmen, daß eine genügende Verständigung zwischen der politischen Leitung und den militärischen Stellen nicht stattgefunden hat*). Denn es ist bekannt, daß 1914 ein anderer Kriegsplan, der die Schonung der belgischen Neutralität vorgesehen hätte, gar nicht vorhanden war (Österreichisches Rotbuch 1919, III, Nr. 114). Der deutschen Regierung blieb also keine Wahl. Es fragt sich aber,

*) Der frühere Kriegsminister v. Stein schreibt allerdings in seinen "Erlebnissen und Betrachtungen aus der Zeit des Weltkrieges" (Leipzig 1919, S. 43): Ein Geschichtsforscher hat mich gefragt, ob die Aufmarschpläne im Einvernehmen mit dem Leiter der Politik aufgestellt würden. Das halte ich für selbstverständlich. Wie sich dabei der Chef des Generalstabs mit der Reichsregierung auseinandersetzt, weiß ich nicht. Es müßte aber eine merkwürdige Staatsleitung sein, die dem Generalstabschef seine eigene Politik überlassen würde.
Tirpitz berichtet dagegen (Erinnerungen, S. 228): "Dabei hatte der Kanzler in seiner Scheu vor Klarheit den Ernstfall so wenig vorbereitet, daß Gesamterwägungen zwischen den politischen und militärischen Spitzen niemals stattgefunden hatten, weder über die politisch-strategischen Probleme der Kriegsführung, noch über die Aussichten eines Weltkrieges überhaupt. Auch über den Einmarsch in Belgien, der, wenn er geschah, sofort maritime Fragen aufwarf, bin ich niemals unterrichtet worden."
Wenn andererseits Schoen (Erlebtes, S. 190) behauptet, selbst als Staatssekretär sei ihm von militärischer Seite niemals ein Wort über Pläne eines Durchmarsches durch Belgien gesagt worden, so muß eine Gedächtnisirrung oder ein Spiel mit Worten vorliegen. Denn es ist undenkbar, daß sich ein langjähriger , Leiter des Auswärtigen Amts niemals mit dieser Frage befaßt habe, die in der militärpolitischen Literatur aller Länder seit Jahrzehnten eine Rolle spielte. Ein derartiges Verhalten würde einer groben Pflichtversäumnis gleichkommen.

ob sie nicht bereits in früheren Jahren, zum mindesten seit Einführung der schweren Mörser, dem vorbeugen konnte, daß sie im Kriegsfalle gezwungen würde, eine Völkerrechtsverletzung zu begehen und den Feldzug mit einem derartig unheilvollen Schritt zu beginnen.
Erfreulich ist immerhin, daß offenbar die politische Leitung und die militärischen Stellen in dem Wunsche übereinstimmten, Belgien die größtmögliche Schonung angedeihen zu lassen.

Wird fortgesetzt...

Zur Hauptseite

© 2006 www.erster-weltkrieg.com