Die Krisis 

Die Grundlinien der diplomatischen Verhandlungen bei Kriegsausbruch 

Von 

B. W. VON BÜLOW 

(1922)

II. Der österreichisch-serbische Konflikt

3. Deutschlands Stellungnahme

Nach der Bluttat von Sarajevo war auch in Deutschland jedermann bald überzeugt, daß Österreich-Ungarn Serbien zur Rechenschaft ziehen werde, denn niemand zweifelte daran, daß dies Verbrechen ein Ausfluß der großserbischen Propaganda sei. Dieser nunmehr ein Ende zu machen, erschien geboten. Mit seiner Randglosse vom 4. Juli "Jetzt oder nie" (Deutsche Dokumente Nr. 7) bewegte sich der Kaiser ganz auf dem Boden der öffentlichen Meinung Deutschlands.
In den ersten Tagen nach dem Attentat wurde allerdings in Berlin eine Mitschuld der serbischen Regierung anscheinend nicht angenommen. Wenigstens berichtete der englische Geschäftsträger am 30. Juni, daß ihm Zimmermann gesagt habe, "er hätte dem russischen Botschafter geraten, alle Anstrengungen zu machen, um die Belgrader Regierung zu bewegen, daß sie Österreich bei der Untersuchung des Mordes tatkräftigst unterstütze. Er sei sicher, daß Herrn Paschitsch keine Verantwortung treffe, und daß dieser Serbien leicht von jedem Verdacht der Mitschuld rein waschen könne, wenn er die Beweggründe, die zu dieser Schreckenstat geführt hätten, von sich wiese". (Oman, S. 15*).) Noch am 3. Juli gab Zimmermann dem französischen Geschäftsträger und am folgenden Tage dem russischen Botschafter eine ähnliche Erklärung ab. "Er hoffe, daß Serbien den Forderungen entsprechen werde, die Österreich zur Ermittlung der Mitschuldigen des Verbrechens von Sarajevo und zu ihrer Verfolgung stellen könnte. Er ver traue darauf, weil Serbien, wenn es anders handele, die Meinung

*) C. Oman, The Outbreak of the War of 1914-1918. (London 1919.) Eine offiziöse Darstellung auf Grund der Akten des englischen Ministeriums des Äußeren. Oman bemerkt hierzu, dies sei ein guter Rat gewesen, dementsprechend Serbien auch gehandelt habe. Er verweist aber als Beleg nur auf einen unbekannten Bericht des englischen Geschäftsträgers in Belgrad vom 17. Juli und auf das serbische Blaubuch Nr. 5, nämlich den Schritt des serbischen Gesandten in Wien, der bereits oben (S. 38 Anm.) charakterisiert wurde.

der ganzen zivilisierten Welt gegen sich hätte"*). (Französisches Gelbbuch Nr. 9.) Hier ist nicht mehr davon die Rede, daß die serbische Regierung keine Verantwortung treffe. Dies mag Zufall sein, ist aber vielleicht auf den Bericht Tschirschkys aus Wien (Deutsche Dokumente Nr. 7) zurückzuführen, der am 2. Juli einging, demzufolge Berchtold erklärt hatte, die Fäden der Verschwörung gegen den Erzherzog Franz Ferdinand liefen in Belgrad zusammen. Am gleichen Tage ging ein Telegramm aus Wien ein (Deutsche Dokumente Nr. 8), in dem von der Möglichkeit einer österreichisch-ungarischen Demarche in Belgrad die Rede war. Auch mag der erste Bericht, den der Gesandte in Belgrad nach dem Attentat einreichte (Deutsche Dokumente Nr. 10), und der am 3. Juli einging, die ursprüngliche Auffassung des damaligen Leiters des Auswärtigen Amtes zu Ungunsten Serbiens beeinflußt haben. Am 4. Juli berichtete Szögyeny, Zimmermann habe ihm versichert, "er fände ein energisches, entschiedenes Vorgehen der Monarchie, auf deren Seite heute die allgemeinen Sympathien der gesamten gesitteten Welt wären, gegen Serbien ganz begreiflich, doch würde er diesbezüglich große Vorsicht empfehlen und raten, an Serbien keine demütigenden Forderungen zu stellen." (Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 5.) Ob und wie weit die Berliner Auffassung in jenen ersten Tagen geschwankt hat, wird sich nachträglich kaum noch feststellen lassen. Diese Einzelheiten sind auch ziemlich belanglos. Jedenfalls ist am 5. Juli nicht mehr angezweifelt worden, daß das Attentat gegen den Erzherzog-Thronfolger auf großserbische Umtriebe zurückzuführen sei, und daß hinter diesen bewußt und verantwortlich die serbische Regierung stehe.
Bis dahin kann von irgendwelcher Serbenfeindlichkeit nicht die Red.) sein. Der Umschwung in der Haltung der deutschen Regierung gegenüber Serbien und den österreichisch-ungarischen Balkanplänen dürfte jedenfalls in erster Linie auf die Empörung über den Mord von Sarajevo zurückzuführen sein. Jagow erklärte dem Untersuchungsausschuß:
Wir hatten unserm Wiener Bundesgenossen stets den Rat gegeben, wieder ein freundschaftliches Verhältnis zu Serbien anzubahnen und einen Interessenausgleich anzustreben. Aber der Mord von Sarajevo, der - eine Frucht der großserbischen Propaganda - ein grelles Schlaglicht auf die Beziehungen der Nachbarstaaten warf, mußte auch uns überzeugen, daß dies unmöglich geworden war. (A. a. O., S. 24.)
Jene blutige Tat wurde damals in der ganzen zivilisierten Welt verabscheut. Das englische und französische Parlament haben unmittelbar darauf sie verurteilt. Auf den deutschen Kaiser, der erst vor kurzem - am 12. und 13. Juni - in Konopischt Gast des Er-

*) Vgl. die ganz ähnliche Erklärung Poincares zu Szecsen am 4. Juli (österreichisch-ungarisches Rotbuch 1914, Nr. 4).

mordeten gewesen war, machte dies Verbrechen begreiflicherweise einen besonders tiefen Eindruck. Daß aber durch den Tod des Erzherzogs das ganze Gefüge des Dreibundes erschüttert worden sei, wie der englische Geschäftsträger am 3". Juli berichtete (Oman, S. 15), trifft sicherlich nicht zu. In Berlin werden, wie auch anderswo, die rein menschlichen Empfindungen die politischen Erwägungen zunächst in den Schatten gestellt haben. Man hat dann aber die allgemeine Verurteilung der Mordtat als Faktor in die politische Berechnung eingestellt: Sehr zu Unrecht, wie sich bald zeigte.
Was die Haltung der deutschen Regierung anlangt, so ist der Ausgangspunkt für die Betrachtung der damaligen Lage in dem österreichisch-ungarischen Memorandum zu suchen, das am 5. Juli in Berlin überreicht wurde (Deutsche Dokumente Nr. 14). Diese Denkschrift verdient deshalb sorgfältiges Studium, weil sie die Auffassung des Wiener und - soweit unwidersprochen - des Berliner Kabinetts über die politische Gesamtlage wiedergibt. Nur über einen Punkt erteilt sie keinen Aufschluß, und auch die bisher veröffentlichten Akten schweigen hierüber. Das ist die Frage, wie sich Deutschland zur früheren österreichisch-ungarischen Balkanpolitik, und insbesondere zu Serbien, gestellt hat. Wir wissen aber aus dem österreichischen Rotbuch 1919 (I, Nr. 2), daß sich Tisza am 1. Juli über die "Eingenommenheit" des deutschen Kaisers für Serbien beklagt hat. Er bat, die Anwesenheit Kaiser Wilhelms in Wien zu benutzen, um seine Sympathie für Serbien "an der Hand der letzten empörenden Ereignisse zu bekämpfen". Der Kaiser kam nicht nach Wien. Die Weitergabe der Gerüchte von einem gegen ihn geplanten Attentat (Deutsche Dokumente Nr. 6a, 6b, 9; Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 3, "12 Mordbuben unterwegs") hat aber anscheinend dem Zwecke dienen sollen, ihn gegen Serbien einzunehmen.
Auch der englische Botschafter in Wien hat unter dem 5. Juli berichtet, daß der "deutsche Kaiser mit der Serbien feindlichen Politik Österreich-Ungarns nicht einverstanden gewesen sei" (Oman, S. 14; vgl. auch Deutsche Dokumente Nr. 16, 41). Bethmann Hollweg hatte, wie aus dem österreichischen Rotbuch 1919 (I, Nr. 7) hervorgeht, Österreich-Ungarn "bisher stets den Rat erteilt, sich mit Serbien zu vertragen". Berlin scheint nach der Wiener Auffassung die Ausführung österreichisch-ungarischer Balkanpläne wiederholt beeinträchtigt zu haben. Nach dem Umschwung schrieb deshalb Tisza, am 8. Juli, von dem "langersehnten vollen Erfolg in Berlin" (Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 12). Auch der bayerische Gesandte in Wien, Freiherr von Tucher, berichtete am 18. Juli nach München:
Große Genugtuung erweckt auf dem Ballplatz der Umschwung in bezug auf die Beurteilung Serbiens in Berlin, wo jetzt die Unmöglichkeit eines freund-
nachbarlichen Verhältnisses klar geworden ist (Untersuchungsausschuß, Beilage 1, S. 92).

Für Deutschland bestand kein Grund zu zweifeln, daß die Regierung in Belgrad für das Attentat gegen den Erzherzog-Thronfolger verantwortlich zu machen sei. Es schien eine ernsthafte Untersuchung in Sarajevo stattzufinden (Deutsche Dokumente Nr. 7, 8, 13). Von dem Bericht Wiesners über das zweifelhafte Ergebnis der Vernehmungen (Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 17) hat Berlin keine Kenntnis erhalten. Die deutschen Berichte aus Belgrad (Deutsche Dokumente Nr. 10, 19a) schienen die Wiener Auffassung von der Schuld Serbiens zu bestätigen. Es ist auch nicht zu vergessen, daß die serbische Presse in jenen Tagen eine maßlose Hetze gegen Österreich-Ungarn betrieb, daß serbische Diplomaten sich zu ungehörigen Äußerungen hinreißen ließen, und daß nach glaubwürdigen Nachrichten damals in Belgrad wiederholt österreichfeindliche Demonstrationen stattgefunden haben. Alles dies war geeignet, Berlin von der Notwendigkeit eines Einschreitens gegen Serbien zu überzeugen.
Die deutsche Regierung wurde bereits am 5. Juli vor die Frage gestellt, wie sie sich zu einer österreichisch-ungarischen Aktion gegen Serbien stellen werde. Die Denkschrift (Deutsche Dokumente Nr. 14), die ihr an diesem Tage überreicht wurde, und in der die meisten schwebenden Fragen der europäischen Politik berührt werden, hat selbstredend ihre Vorgeschichte. Sie ist nicht mit Rücksicht auf den Mord in Sarajevo abgefaßt worden, sondern stellte die Folgerungen zusammen, die die Wiener Regierung aus den Besprechungen gezogen hatte, die in der letzten Zeit mit Berlin gepflogen worden waren*). Drei Brennpunkte dieser Besprechungen bilden die Besuche Kaiser Wilhelms in Wien, Miramar und Konopischt. Wenn auch das österreichisch-ungarische Memorandum offenbar über den Rahmen der damaligen Erörterungen hinausgeht, so bildet es doch in gewissem Sinne nur ihre Fortsetzung. Es ist jedenfalls auf denselben Grundgedanken aufgebaut und behandelt in erster Linie die gleichen Fragen, die Kaiser Wilhelm mit dem Kaiser Franz Joseph und seinen Ministern, bzw. mit dem Erzherzog Franz Ferdinand besprochen hatte. Auf jene Unterredungen zurückzugreifen, erübrigt sich in diesem Zusammenhange. Es genügt festzustellen, daß die austro-serbischen Beziehungen damals kaum berührt worden sind, und daß keine Rede davon gewesen ist, sie durch Gewaltmaßnahmen zu regeln.

*) In sehr vielen Punkten fußt diese Denkschrift auf dem "Vortrag" des Grafen Tisza vom 15. März 1914, der ebenfalls eine Beurteilung der europäischen Lage insbesondere mit Bezug auf den Balkan enthält. Wiedergegeben bei Wilhelm Fraknöi, Die ungarische Regierung und die Entstehung des Weltkrieges (Wien 1919).

Was nun den Inhalt des österreichisch-ungarischen Memorandums anlangt, so wird hinsichtlich der allgemeinen Lage in Europa darauf hingewiesen, daß die Mittelmächte eine konservative Politik betrieben, während der Zweibund Frankreich-Rußland einer offensiven Tendenz huldigte. Der europäische Friede sei bisher nur dank der militärischen Überlegenheit des durch Rumänien verstärkten Dreibundes erhalten worden. Die Wiener Regierung zog ferner eine Bilanz der Ergebnisse des Balkankrieges, in der die Passivposten die Aktiva überwogen. Zwar sei ein albanischer Staat gegründet worden, Griechenland nehme eine dem Dreibund freundliche Haltung ein und Bulgarien habe sich von dem russischen Einfluß befreit. Dagegen sei die Türkei sehr geschwächt und Serbien außerordentlich vergrößert worden. Die Union Serbiens mit Montenegro stehe bevor. Die bedenklichste Erscheinung sei aber die Entfremdung Rumäniens, seine Annäherung an Rußland und sein enges Einvernehmen mit Serbien. Das Bündnis der Mittelmächte mit Rumänien sei nahezu entwertet. Durch diese Verschiebung der Kräfte und des politischen Gesamtbildes sei die Hauptfriedensgarantie Europas, die militärische Überlegenheit der Mittelmächte, im Begriff zu verschwinden*).
Dazu komme, daß Rußland und Frankreich sich mit dem ihnen günstigen Ergebnisse der Balkankriege nicht zufrieden gäben. Ihre Politik gehe offenbar darauf aus, die gegenwärtig vorhandene Spaltung der Balkanvölker zu beheben und den neu zusammengeschlossenen Balkanbund als Waffe gegen Mitteleuropa zu gebrauchen, um die militärische Überlegenheit des Dreibundes zu beseitigen.

*) Tisza schrieb in seinem vorerwähnten Vortrage vom 15. März 1914:
"Wir brauchen eine weit vorausblickende Politique de longue main, welche
die Gegensätze (zwischen den Balkanstaaten) ebnet, die Hindernisse aus dem
Wege schafft und eine uns genehme Gruppierung der Kräfte in Südosteuropa
zuwege bringt.
"Zu diesem Zwecke müssen wir aber nicht nur mit unseren eigenen Absichten, sondern auch mit Deutschland ins reine kommen. Unsere Aufgabe ist an und für sich schwierig; von einem Erfolg kann keine Rede sein, wenn wir nicht die volle Gewähr haben, von Deutschland verstanden, gewürdigt und unterstützt zu werden. Deutschland muß einsehen, daß der Balkan nicht nur für uns, sondern auch für das Deutsche Reich von entscheidender Wichtigkeit ist.....
"Deutschlands zwei Nachbarn werden die militärischen Vorbereitungen sorgfältig fortsetzen, den Krieg jedoch solange nicht anfangen, bis sie nicht eine gegen uns gerichtete Gruppierung der Balkanvölker erreicht haben, welche, die Monarchie einem Angriff von drei Seiten aussetzt und den größten Teil unserer Streitkräfte an unserer Ost- und Südgrenze bindet. Der Schwerpunkt der europäischen Politik liegt also - auch vom deutschen Standpunkt - auf dem Balkan, und es ist gerade so gut ein deutsches wie ein österreichisch-ungarisches Lebensinteresse, der zielbewußten und auf Frankreich gestützten russischen Balkanpolitik eine ebenso zielbewußte, harmonische deutsch-österreichische Politik entgegenzustellen."

Als Mittel zu diesem Zwecke diene anscheinend (dies wurde übrigens, inzwischen durch russische und serbische Dokumente bestätigt)* das Versprechen einer Vergrößerung der Balkanstaaten auf Kosten Österreich-Ungarns im Wege einer allgemeinen Grenzverschiebung von Ost nach West. Eine solche Politik sei um so gefährlicher, als die Revanchepläne Frankreichs zur Genüge bekannt seien und Rußland außerordentliche Rüstungen betreibe, die sich offensichtlich gegen Deutschland richteten.
Um diese Gefahren zu beschwören, schlug die Wiener Regierung vor, Bulgarien an Stelle von Rumänien zum Balkanexponenten der Mittelmächte zu machen. Werde Bulgarien vor der von Rußland und Frankreich erstrebten Isolierung bewahrt, so könne es vom Anschluß an den neuen Balkanbund abgehalten werden. Hierzu sei ein Vertragsverhältnis mit Bulgarien erforderlich, das durch ein bulgarisch-türkisches Bündnis zu ergänzen sei. Auf diese Weise lasse sich die russisch-französische Balkanpolitik und ihre aggressiven Absichten vereiteln.
In militärischer Hinsicht wurde lediglich in Aussicht genommen daß "die Monarchie für den Kriegsfall andere Dispositionen treffen und auch die Anlage von Befestigungen gegen Rumänien in Betracht ziehen" müsse. Beide Maßnahmen wurden mit der Unzuverlässigkeit der Bukarester Regierung begründet. Dies militärische Programm hätte sich ebensowenig wie das politische innerhalb von Wochen oder Monaten verwirklichen lassen. Es handelte sich demnach bei allen Vorschlägen um ein Programm auf lange Sicht.
Serbien wird in dieser Denkschrift nur ganz kurz erwähnt. Österreich-Ungarns Stellung zu diesem Nachbar wird dagegen in einem Schlußabsatz, der nach der Mordtat von Sarajevo geschrieben ist, dargelegt. Wie wir heute wissen, liegt das Bedenkliche in Österreich-Ungarns Stellungnahme zu Serbien weniger in dem, was in dieser Denkschrift gesagt worden ist, als in dem" was sie nicht enthält. Denn sowohl in dem ersten Entwurf des Memorandums (vom Mai), wie auch in seiner zweiten Fassung (vom, Juni) ist die Möglichkeit einer Wiederannäherung Serbiens an Österreich-Ungarn durch rumänische Vermittlung noch vorgesehen. Durch die Streichung dieses Punktes, die natürlich in Berlin nicht bekannt war, gewinnen im Anhang zur Denkschrift die Worte "Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes zwischen der Monarchie und Serbien" und "die Notwendigkeit, mit entschlossener Hand die Fäden zu zerreißen" eine Bedeutung, die ohne Kenntnis der Vorgeschichte des Memorandums nicht ersichtlich war. Bei der Zusammenkunft in Konopischt war bekanntlich von Serbien überhaupt nicht die Rede, diese Schwenkung der Wiener Politik ließ sich also gar nicht erkennen.
Das Handschreiben des Kaisers Franz Joseph vom 2. Juli (Deutsche Dokumente Nr. 13) faßt den Inhalt des Memorandums, der ein an sich einwandfreies politisches Programm darstellt, noch einmal zusammen und verschärft seine Grundgedanken, namentlich in der serbischen Frage. Es bleibt aber als Hauptinhalt das durchaus friedliche Ziel, einen neuen, den Mittelmächten freundlichen Balkanbund zu schaffen. Wenn das Wiener Kabinett, das hierin mit Petersburg und Paris übereinstimmte, die Besitzverhältnisse auf dem Balkan so kurz nach den Balkankriegen noch nicht als endgültig ansah, so ist dies nur natürlich. Bulgarien war im Frieden von Bukarest schweres Unrecht geschehen. Nichts ist begreiflicher, als daß man in Wien geneigt war, aus dieser Tatsache politischen Nutzen zu ziehen. Wenn es demnach in dem Schreiben des Kaisers Franz Joseph heißt, das Bestreben Österreich-Ungarns müsse "in Hinkunft auf die Isolierung und Verkleinerung Serbiens gerichtet sein", so ist dies ebenfalls nicht befremdlich. Zu Unrecht ist hieraus die erklärte Absicht eines österreichisch-ungarischen Eroberungskrieges gefolgert worden. Eine solche Absicht konnte dem Schreiben nicht entnommen werden, denn es heißt anschließend, "die erste Etappe auf diesem Wege wäre in einer Stärkung der Stellung der gegenwärtigen bulgarischen Regierung zu suchen". Dies bedeutete ein Programm, das sich erst in Jahr und Tag verwirklichen ließ. Hält man dieser Stelle die des Memorandums gegenüber, in der es heißt, Bulgarien müsse vor russischen Lockungen eines Wiedererwerbes Mazedoniens bei einer staffelweisen Verrückung der Grenzen von Ost nach West bewahrt werden, so scheint es, daß in Wien damals die Absicht bestanden hat, Bulgarien in der Hoffnung auf einen künftigen Krieg gegen Serbien zu bestärken*).
Was schließlich die Haltung Deutschlands gegenüber den österreichisch-ungarischen Vorschlägen anlangt, so ist zunächst festzustellen, daß zwischen dem Kaiser, dem Kanzler und dem Auswärtigen Amt Übereinstimmung geherrscht hat. Eine Stellungnahme zur Wiener Darlegung der allgemeinen europäischen Lage» erfolgte nicht, doch ist die Auffassung der deutschen Regierung und ihre Beunruhigung aus dem Erlaß nach London vom 16. Juni (Deutsche Dokumente Nr. 3) ersichtlich. Die österreichisch-ungarischen Sorgen wegen der Lage auf dem Balkan, und insbesondere Serbiens, wurden als berechtigt anerkannt. Die russischen und serbischen Urkunden haben ja auch die Wiener Darstellungen in ,, allen wesentlichen Punkten bestätigt. Die Berliner Regierung er-
I klärte ihr Einverständnis mit jedem Vorgehen Österreich-Ungarns gegen Serbien, also auch mit einem Kriege. Sie gab der Wiener 

*) Tatsächlich wurde bei dem Ministerrat vom 19. Juli in Wien "die Verkleinerung Serbiens zugunsten anderer Staaten" ins Auge gefaßt (Österreichisches Rotbuch I, Nr. 26).

Regierung freie Hand. Übrigens war auch die österreichisch-ungarische Regierung der Ansicht, daß sie allein zu entscheiden habe, was gegen Serbien unternommen werden müsse (Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 3). Deutscherseits ist aber nicht die Einwilligung zu einer machtpolitischen Aktion im Sinne einer Expansionspolitik gegeben worden. Von der Absicht eines "Vormarsches auf Konstantinopel'', von der der Feindbund zu berichten weiß, ist nach Maßgabe der Berliner und Wiener Akten keine Rede. Die Aktion war als rein defensives Unternehmen gedacht. Sie wurde deutscherseits gebilligt trotz der Gefahr einer Verwickelung mit Rußland (Deutsche Dokumente, Band I, S. XV, XVI; Reichstags-Denkschrift vom 3. August 1914; österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 6).
Hinsichtlich der speziellen Vorschläge Österreich - Ungarns wurden deutscherseits zwar Bedenken gegen einen Anschluß Bulgariens an den Dreibund erhoben, schließlich diesem aber zugestimmt. Die Berliner Regierung wollte jedoch ihre früheren guten Beziehungen zu Rumänien nicht aufgeben, ohne noch einmal den Versuch zu machen, Rumänien vom Anschluß an einen den Mittelmächten feindlichen Balkanbund abzuhalten. Sie verlangte auch, daß der Vertrag mit Bulgarien keine Spitze gegen Rumänien haben dürfe. Eine Stellungnahme zur schwebenden österreichischserbischen Frage, also eine Erörterung der Mittel und Wege, wurde ausdrücklich abgelehnt, Österreich - Ungarn jedoch nahegelegt, rasch zu handeln, um für seine Aktion gegen Serbien die günstige Konstellation des Augenblickes auszunutzen. Dieser letztere Rat, der politisch zweifellos richtig war, ist im Laufe der nächsten Wochen mehrfach wiederholt worden.
Bei diesem entscheidenden Wendepunkt vom 5. und 6. Juli ist zunächst festzustellen, daß von der Absicht, einen allgemeinen Krieg zu entfesseln, die der Feindbund der deutschen Regierung unterstellt hat, keine Rede gewesen ist. Dies zeigt einmal, daß in Wien und Berlin Pläne einer Balkanpolitik in Aussicht genommen wurden, die zu ihrer Verwirklichung längere Zeit erforderten. Über die Möglichkeit, daß aus einer österreichisch-ungarischen Aktion gegen Serbien ein allgemeiner Krieg entstehen könne, war man sich natürlich im klaren. Von einem dolus eventualis der deutschen Regierung zu sprechen, ist unzulässig, denn dieser juristische Begriff ist auf politische Erwägungen nicht anwendbar, bei denen naturgemäß alles relativ ist. Die Gefahr der Entfesselung eines europäischen Krieges bestand seit Jahren bei jeder politischen Aktion. Selbst die Entsendung einer deutschen Militärmission nach der Türkei hat im Januar 1914 fast zum europäischen Kriege geführt, und es ist leider anzunehmen, daß sich die europäischen Staatsmänner allzu sehr an den Gedanken der immer vorhandenen Kriegsgefahr gewöhnt hatten. Für die Beurteilung der deutschen Politik zu Anfang des Juli 1914 ist nicht ausschlaggebend, ob sie die Möglichkeit eines Krieges voraussah, sondern, wie ernst sie diese Gefahr einschätzte. Hierüber geben die Akten genügenden Aufschluß. Offensichtlich sah man eine Gefahr für den Frieden nur auf seiten Rußlands. Ein Eingreifen Englands erwartete man nicht, und merkwürdigerweise hat man auch von französischer Seite nichts befürchtet. Über die Haltung der Petersburger Regierung scheint die Ansicht geherrscht zu haben, daß Rußland nicht genügend gerüstet sei und deshalb keinen Krieg führen könne und werde. Zudem setzte man außerordentlich große und, wie sich bald zeigen sollte, ganz ungerechtfertigte Hoffnungen auf das Gefühl monarchischer Solidarität, das den Zaren abhalten werde, "sich auf die Seite der Prinzenmörder zu stellen".
Es sei übrigens darauf hingewiesen, daß in den Dokumenten die Erörterung der Kriegsgefahr vermutlich mehr Raum einnimmt, als der damaligen Auffassung tatsächlich entsprach. Denn der ungünstigste Fall wird stets ausführlich behandelt, während man die Selbstverständlichkeiten einer günstigen Lösung kaum berührt.
Die deutsche Regierung hat aus den wesentlichsten Gesichtspunkten ihrer damaligen Haltung kein Hehl gemacht. In der Reichstags-Denkschrift vom 3. August 1914 wurde über die Lage zu Anfang Juli zutreffend gesagt:
Die k. u. k. Regierung benachrichtigte uns von dieser Auffassung (daß es weder mit der Würde noch mit der Selbsterhaltung der Monarchie vereinbar wäre, dem Treiben jenseits der Grenze noch länger tatenlos zuzusehen) und erbat unsere Ansicht. Aus vollem Herzen konnten wir unserm Bundesgenossen unser Einverständnis mit seiner Einschätzung der Sachlage geben und ihm versichern, daß eine Aktion, die er für notwendig hielte, um der gegen den Bestand der Monarchie gerichteten Bewegung in Serbien ein Ende zu machen, unsere Billigung finden würde. Wir waren uns hierbei wohl bewußt, daß ein etwaiges kriegerisches Vorgehen Österreich-Ungarns gegen Serbien Rußland auf den Pian bringen und uns hiermit, unserer Bundespflicht entsprechend, in einen Krieg verwickeln könnte. Wir konnten aber in der Erkenntnis der vitalen Interessen Österreich-Ungarns, die auf dem Spiele standen, unserem Bundesgenossen weder zu einer mit seiner Würde nicht zu vereinbarenden Nachgiebigkeit raten, noch auch ihm unseren Beistand in diesem schweren Moment versagen. Wir konnten dies um so weniger, als auch unsere Interessen durch die andauernde serbische Wühlarbeit auf das empfindlichste bedroht waren. Wenn es den Serben mit Rußlands und Frankreichs Hilfe noch länger gestattet geblieben wäre, den Bestand der Nachbarmonarchie zu gefährden, so würde dies den allmählichen Zusammenbruch Österreichs und eine Unterwerfung des gesamten Slawentums unter russischem Szepter zur Folge haben, wodurch die Stellung der germanischen Rasse in Mitteleuropa unhaltbar würde. Ein moralisch geschwächtes, durch das Vordringen des russischen Panslawismus zusammenbrechendes Österreich wäre für uns kein Bundesgenosse mehr, mit dem wir rechnen könnten und auf den wir uns verlassen könnten, wie wir es angesichts der immer drohender werdenden Haltung unserer östlichen und westlichen Nachbarn müssen. Wir ließen daher Österreich völlig freie Hand in seiner Aktion gegen Serbien. Wir haben an den Vorbereitungen dazu nicht teilgenommen.
Die deutsche Regierung hat bei der Aufstellung der an Serbien zu richtenden Forderungen nicht mitgewirkt und hat dadurch in kurzsichtiger Weise die Mitverantwortung zu vermeiden gesucht. Bereits am 4. Juli schrieb der Kaiser an den Rand eines Berichtes aus Wien (Deutsche Dokumente Nr. 7): Es sei "lediglich Österreichs Sache, was es zu tun gedenkt. Nachher heißt es dann, wenns schief geht, Deutschland hat nicht gewollt". Die Haltung der deutschen Regierung Österreich-Ungarn gegenüber hat der bayerische Gesandte in Wien, Freiherr von Tucher, seinerzeit sehr treffend gekennzeichnet:
Unsere Stellung Österreich-Ungarn gegenüber ist sehr heikel; wir müssen uns hüten, seine Empfindlichkeit zu verletzen, und bei Fragen dieser Art enthalten wir uns sorgfältig, ihm Ratschläge im einen oder im anderen Sinne zu erteilen, um uns nicht in der Folge Vorwürfen auszusetzen, falls die Ereignisse eine unerwünschte Wendung nehmen. Auch diesmal hat Deutschland seinem Verbündeten erklärt, dieser müsse lediglich seine eigenen Interessen berücksichtigen und so handeln, wie er es für notwendig erachte. Es hat sich darauf beschränkt, hinzuzufügen, daß es ihm nötigenfalls zur Seite stehen würde. (Bericht des belgischen Gesandten in Wien vom 27. Juli 1914, Nr. 403/149, Deutsche Allgemeine Zeitung vom 22. Mai 1919.)
In seinem eigenen Bericht vom 14. Juli meldete der bayerische Gesandte auf Grund seiner Kenntnisse und Beobachtungen:
Die Haltung Deutschlands ist die gleiche wie während der ganzen Balkankrise: Österreich-Ungarn hat zu erkennen, was seine Lebensinteressen sind, und zu entscheiden, wie und wann es dieselben zu verteidigen hat. Deutschland steht dem Bundesgenossen treu zur Seite und wird alle Konsequenzen aus dem Bündnis ziehen (Untersuchungsausschuß, Beilage 1, S. 91).
Die deutsche Regierung ist gemäß den bei Beginn der Krise mit Wien vereinbarten Richtlinien vorgegangen. Sie hat ihren Gesandten in Bukarest und Sofia entsprechende Weisungen erteilt und sich, von gelegentlichen Warnungen an Serbien abgesehen, der Einmischung in die serbische Frage enthalten. Die Wiener Regierung machte allerdings den Versuch, Berlin zur Stellungnahme zu veranlassen. Am 10. Juli telegraphierte der deutsche Botschafter in Wien, Berchtold würde gern wissen, wie man in Berlin über die Formulierung geeigneter Forderungen gegenüber Serbien denke. Er meinte, man könnte unter anderem verlangen, daß in Belgrad ein Organ der österreichisch-ungarischen Regierung eingesetzt werde, um von dort aus die großserbischen Umtriebe zu überwachen (der spätere Punkt 5 der Note), eventuell auch die Auflösung von Vereinen (Punkt 2) und Entlassung einiger kompromittierter Offiziere (Punkt 4). Die Frist zur Beantwortung müsse möglichst kurz bemessen werden, wohl mit 48 Stunden. (Deutsche Dokumente Nr. 29.)
Am 11. Juli hat Tschirschky einen Privatbrief an Jagow gerichtet, in dem die hauptsächlichsten Forderungen an Serbien im Anschluß an eine neuerliche Unterredung mit Berchtold aufgezählt waren. Man werde verlangen, "der König müsse amtlich und öffentlich in einer feierlichen Erklärung und durch einen Armeebefehl kundtun, daß Serbien sich von der Politik in großserbischem Sinne lossage". Diese Forderung ist in die Note aufgenommen worden. "Zweitens werde die Einsetzung eines Organs der österreichisch-ungarischen Regierung verlangt werden, das über die strikte Einhaltung dieser Zusicherung zu wachen haben werde", also der vorerwähnte Punkt 5 der Note. Ferner heißt es wie in dem Telegramm vom 10. Juli: "Die Frist zur Beantwortung dieser Note werde so kurz wie möglich, also vielleicht mit 48 Stunden, bemessen werden." (Untersuchungsausschuß, Beilage 1, S. 120.) Wie aus dem Bericht des bayerischen Geschäftsträgers vom 18. Juli (Deutsche Dokumente, Anhang IV, Nr. 2) hervorgeht, hatte man in Berlin Kenntnis von weiteren Punkten der beabsichtigten österreichisch-ungarischen Note, und zwar von den späteren Punkten 6 und 4. Woher diese Kenntnis stammte, ist weder aus den deutschen, noch aus den österreichisch-ungarischen Akten ersichtlich. Jagow hat dem Untersuchungsausschuß erklärt:
Ich habe den Graf en Szögyeny, der mich fast täglich aufsuchte, verschiedentlich nach den Absichten seiner Regierung befragt und ihn um Mitteilung gebeten. Er zeigte sich im ganzen wenig orientiert. Am 9. Juli hatte er mir versprochen, daß wir von den zu treffenden Entscheidungen sofort in Kenntnis gesetzt werden würden, der Zeitpunkt hinge noch von dem Ausgang der Untersuchung in Sarajevo ab (Nr. 23 der Dokumente). Am 10. Juli berichtete Herr von Tschirschky, Graf Berchtold habe gemeint, man könnte unter anderem gewisse, im Bericht angegebene Forderungen an Serbien richten und eine Frist von 48 Stunden zur Beantwortung stellen (Nr. 29 der Dokumente).
Am 14. Juli meldete unser Botschafter dann, Graf Tisza habe sich jetzt zu der Ansicht bekannt, daß man zu energischen Entschlüssen kommen müsse, und gesagt, daß volles Einvernehmen und Entschlossenheit herrsche. Die Note sei in ihrem letzten Wortlaut noch nicht festgestellt, bei ihrer Abfassung müsse Rücksicht darauf genommen werden, daß sie für das große Publikum verständlich sei und das Unrecht klar und deutlich Serbien zuschiebe (Nr. 49 der Dokumente). ..Ein weiteres Telegramm des Botschafters vom selben Tage enthielt ähnliche Äußerungen des Grafen Berchtold. Der Minister hatte auch zugesagt, er werde die Note - nach Feststellung des Textes und noch vor ihrer Unterbreitung an seinen Kaiser - unverzüglich der deutschen Regierung zukommen lassen. (Nr. 50 der Dokumente.)
Am 19. Juli habe ich nach Wien telegraphiert und um sofortige Mitteilung der Note (nach Feststellung) gebeten. Vorherige Orientierung über wesentliche Punkte des beabsichtigten Vorgehens sei erwünscht. (Nr. 77 der Dokumente.)
Vergleiche ferner Telegramme und Briefe des Grafen Szögyeny vom 21. Juli Nr. 39 und 41 des österreichischen Rotbuches. (A. a. 0., S. 29.)

Auch Zimmermann sagte aus:
Ich habe mich beim Grafen Szögyeny bei unseren häufigen Zusammenkünften regelmäßig nach den Nachrichten über die Untersuchung in Sarajevo erkundigt und ihn gebeten, uns darüber auf dem laufenden zu halten. Auch habe ich wiederholt der Erwartung Ausdruck gegeben, daß seine Regierung uns nicht vor vollendete Tatsachen stellen werde. (A. a. O., S.33.)
Unter diesen Umständen ist es schwer verständlich, daß die deutsche Regierung nicht besser unterrichtet wurde, eine Tatsache, die sich wohl nur aus einer dahingehenden Absicht des Wiener Kabinetts erklären läßt. Denn in Berlin war schließlich über die Note nur bekannt: die Absicht, sie auf 48 Stunden zu befristen, die Forderung einer Proklamation (die von Serbien angenommen wurde), sowie die Punkte 2, 4, 5 und 6 in Umrissen. (Von diesen wurde Punkt 2 angenommen, gegen Punkt 4, 5 und besonders 6 wurden mehr oder weniger ernste Bedenken erhoben.) Aber selbst diese Kenntnis war nur unbestimmter Art. Von Beschlüssen wußte man nichts, nur von Absichten und Erwägungen.
Wer das Leben in den Hauptstädten der Welt in Zeiten politischer Spannung kennt, wird bestätigen können, daß überall Gerüchte umlaufen, daß jeder, der als eingeweiht gelten will, und mancher, der tatsächlich unterrichtet ist, von den kommenden Dingen zu berichten weiß. Alle, die einen Vorschlag zu machen haben, geben zu verstehen, daß er bereits so gut wie angenommen sei. Infolgedessen wird es damals in Wien leicht gewesen sein, etwas über die bevorstehende Demarche gegen Serbien zu erfahren, schwer dagegen zu ermitteln, welche Tatsachen der Wahrheit entsprachen und als bindende Beschlüsse anzusehen waren. So konnte der bayerische Gesandte in Wien vier Tage vor der ersten, bedeutungsvollen Unterredung zwischen Berchtold und Tschirschky über den Inhalt der österreichisch-ungarischen Note bereits über einige Forderungen zutreffend, wenn auch noch unverbindlich, berichten. Er meldete am 6. Juli:
Es wird auch davon gesprochen, aus den Attentaten einen Kriegsfall zu konstruieren und früher Versäumtes nachzuholen, da mit Serbien nicht anders fertig zu werden ist. Dazu liegt heute noch kein genügender Grund vor. Erst wenn Serbien sich weigern sollte, die Forderungen, welche je nach den Ergebnissen der Untersuchung in Sarajevo von Österreich-Ungarn gestellt werden, zu erfüllen, zum Beispiel Auflösung der Narodna-Odbrana und anderer großserbischer Vereine, Bestrafung der Anstifter und Mitschuldigen der Attentate u. dgl., könnte man an Gewaltmaßregeln gegen Serbien denken. Es ist sicher, daß sich Kaiser Franz Joseph nur unter dem Druck zwingender Umstände zu Schritten entschließen wird, in deren Gefolge ein europäischer Krieg entbrennen kann. (Untersuchungsausschuß, Beilage 1, S. 90.)
Wie aus dem englischen Blaubuch (Nr. 161) bekannt ist, hat der englische Botschafter in Wien bereits am 16. Juli telegraphisch über die beabsichtigte österreichisch-ungarische Demarche berichtet (siehe auch Oman, S. 14), und der französische Konsulatskanzler in Wien, der vielleicht einen tschechischen Freund im Ministerium des Äußern hatte, schrieb am 20. Juli einen Bericht über die beabsichtigte Note, der den Inhalt der Punkte 1,2,3 und 8 ziemlich zutreffend wiedergibt (Französisches Gelbbuch Nr. 14). Paris war demnach annähernd ebenso gut unterrichtet wie Berlin.
Die deutsche Regierung lehnte es am 11. Juli ab, zu Berchtolds Fragen Stellung zu nehmen (Deutsche Dokumente Nr. 31) und beschränkte sich darauf, nach Möglichkeit für einen glatten Verlauf der Krise zu sorgen. So erteilte sie den Rat, den geplanten Schritt vor der Öffentlichkeit eingehend zu begründen, und befürwortete den österreichisch-ungarischen Entschluß, die Abreise Poincares aus Petersburg abzuwarten, damit nicht in der dort herrschenden Verbrüderungsstimmung übereilte Schritte beschlossen würden.
Die verantwortlichen Persönlichkeiten in Berlin hätten eine baldige Demarche in Belgrad begrüßt, weil diese naturgemäß unter dem frischen Eindruck des Attentats von Sarajevo mehr Verständnis und Sympathie finden mußte, und haben auch dieser Auffassung wiederholt Ausdruck gegeben. Ferner zeigten sie eine nur aus der noch unbekannten Geschichte der deutsch-österreichischen Beziehungen begreifliche Sorge, in Wien nicht als hemmender Faktor zu erscheinen (Deutsche Dokumente Nr. 61, 70). Auf der anderen Seite lag die Befürchtung nahe, daß der psychologische Augenblick verpaßt würde. Tschirschky wußte zwar fast täglich von Beratungen und Verhandlungen zu melden, nicht aber von Entschließungen. "Inoffizielle Gerüchte aus Wien dagegen ließen mitunter den Eindruck zu, als zögere man dort und könne nicht zum Entschluß kommen, was nach früheren Erfahrungen nicht ganz ausgeschlossen schien." (Jagow, a. a. 0., S. 29.)
Eine Beeinflussung Österreich-Ungarns durch die Berliner Regierung im Sinne einer Verschärfung der zu stellenden Forderungen ergibt sich, wie gesagt, aus den deutschen Akten nicht. Berlin hat keinen direkten Einfluß auf den Inhalt der Note an Serbien ausgeübt. Auch der deutsche Botschafter in Wien hat an den Beratungen über die in Belgrad zu stellenden Forderungen nicht teilgenommen. Dies bestätigte übrigens Tisza kurz vor seinem Tode in einer Rede im ungarischen Abgeordnetenhause am 22. Oktober 1918. Bis er durch das Telegramm vom 6. Juli (Deutsche Dokumente Nr. 15) verständigt wurde, daß Deutschland ,,zu den zwischen Österreich-Ungarn und Serbien schwebenden Fragen naturgemäß keine Stellung nehme", hat Tschirschky in Wien zur Mäßigung und Vorsicht geraten. Bereits am 30. Juni berichtet er, daß er jeden Anlaß benutze, um nachdrücklich und ernst vor übereilten Schritten zu warnen (Deutsche Dokumente Nr. 7). Er empfahl, vor allem die europäische Gesamtlage in Rechnung zu ziehen. Ähnlich äußerte er sich am 2. Juli dem Kaiser Franz Joseph gegenüber (Deutsche Dokumente Nr. 11).
Diplomaten und Propagandastellen des Feindbundes haben wiederholt versucht, Tschirschky als Kriegshetzer und alldeutschen Scharfmacher hinzustellen. (Siehe Englisches Blaubuch Nr. 141, 161, Oman S. 14, Französisches Gelbbuch Nr. 18, 109, 114, Serbisches Blaubuch Nr. 22, 24, 52.) Die deutschen Urkunden zeugen gegen diese Auffassung, gegen die auch die ganze Veranlagung des Botschafters spricht. Tschirschky war von Natur sehr vorsichtig und eher pedantisch. Er war den Wiener Herren unsympathisch durch die schulmeisterische Art seines Auftretens, mit der er oft - vielleicht mehr berechtigt als diplomatisch gewandt, und daher in der Wirkung verfehlt - ihnen die Zerfahrenheit der österreichisch-ungarischen Zustände und den herrschenden Schlendrian vorhielt. Er sah die Zeichen des Zerfalls der Monarchie und erkannte die Notwendigkeit, daß diese etwas tun müsse, um sich zu retten. Da er aber gleichzeitig wohl daran zweifelte, ob sie noch stark genug sei, ein schwere internationale Krisis zu überstehen, kann er unmöglich aus eigenem Antriebe zum Kriege gehetzt haben. Selbst sein Gegner Lichnowsky erklärte gegenüber dem Untersuchungsausschuß :
Ich habe Herrn von Tschirschky seit seinem Eintritt in den diplomatischen Dienst gekannt und ihn als einen überaus gewissenhaften, vielleicht sogar etwas ängstlichen und pedantischen Beamten beurteilt, der gewiß aus. eigener Initiative keine schroffe Haltung eingenommen und sich nicht in Übereinstimmung mit seiner vorgesetzten Behörde in einer so wichtigen Frage befunden hätte. (Untersuchungsausschuß, Beilage 1, S. 34.)
Der damalige Militärattache in Wien hat ebenfalls bezeugt, daß "der jetzt öfters erhobene Vorwurf, Herr von Tschirschky habe zum Kriege gedrängt und die ihm erteilten Richtlinien überschritten, seiner Ansicht nach ganz ungerechtfertigt" sei. (A. a. 0., S. 35.) Zeugnisse dieser Art liegen zahlreich vor. Da die nach Wien ergangenen Weisungen bekannt sind, müssen die Behauptungen über Tschirschkys Kriegstreiberei als Erfindungen angesehen werden, auch dann, wenn sie von Berchtold herrühren. (Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 3 und 10. Siehe hierzu Gooss, a. a. O., S.40, Anm.; Deutsche Dokumente, IV, S. 172, Anhang IX.)
In Berlin war aus den Berichten Tschirschkys bekannt, daß Berchtold persönlich eine kriegerische Lösung des Konfliktes bevorzugte. Ebenso wußte man, daß Tisza zur Mäßigung riet. In diesen Konflikt der Meinungen wurde deutscherseits nicht eingegriffen. Die deutsche Regierung scheint selbst der Auffassung gewesen zu sein, daß eine Lösung des österreichisch-serbischen Konfliktes ohne kriegerische Auseinandersetzung möglich sei, wenn Serbien sich bereit erklärte, die Mordtat von Sarajevo zu sühnen und ausreichende Garantien für die Zukunft zu geben*). Zeigte sich Serbien nicht gewillt, die diesbezüglichen österreichisch-ungarischen Forderungen zu erfüllen, so sah man in Berlin in der Anwendung militärischer Zwangsmittel offenbar ein geringeres Übel

*) Siehe Französisches Gelbbuch Nr. 9, Serbisches Blaubuch Nr. 19, 26, Deutsche Dokumente Nr. 91.

als in der Fortdauer des durch die großserbischen Umtriebe geschaffenen Zustandes dauernder Beunruhigung.
Da über die Absichten der Wiener Regierung und den Inhalt der Note nichts Näheres bekannt war (Deutsche Dokumente Nr. 61), wurde deutscherseits am 19. Juli telegraphisch um Mitteilung ihres Wortlautes gebeten (Deutsche Dokumente Nr. 77). Dieser lag aber erst am Abend des 22. Juli in Berlin vor*). Da die Note, wie der österreichisch-ungarische Botschafter erklärte, bereits nach Belgrad abgegangen war (am 20. Juli! - österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 27), wäre es nicht möglich gewesen, eine Abänderung ihres Wortlautes zu erwirken. Die österreichisch-ungarischen Forderungen wurden jedoch von Bethmann Hollweg und von Jagow als zu weitgehend und die Sprache der Note als zu scharf beurteilt**). Daß man in Berlin den Vertretern des Dreiverbandes von dieser Einschätzung keine Mitteilung machte, ist ganz natürlich. Die Meldung Szögyenys, Jagow habe ihm versichert, "daß die deutsche Regierung mit dem Inhalt dieser Note selbstverständlich ganz einverstanden sei" (Österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr. 6), stimmt mit der Darstellung Jagows nicht überein. Dieser hat dem Untersuchungsausschuß erklärt:
Graf Szögyeny suchte mich am 22. abends - soviel ich mich erinnere, war es nach 7 Uhr - auf, um mir den Text der österreichischen Note zu überbringen. (Nach der Weisung Nr. 30 des österreichischen Rotbuches sollte es eigentlich erst am 24. früh geschehen.) Nach Kenntnisnahme sagte ich dem Botschafter, daß mir die Note nach Form und Inhalt zu scharf erscheine. Ich

*) Der Bericht aus Wien vom 21. Juli (Deutsche Dokumente Nr. 106), mit dem der Text der Note eingereicht wurde, ist in den Dokumenten als erstes vom 22. Juli eingeordnet worden. Dadurch wird der Eindruck hervorgerufen, daß diese "nachmittags" registrierte Urkunde frühzeitig eingegangen sei. Dies ist nach Jagow, Ursachen und Ausbruch des Weltkrieges (Berlin 1919), Seite 109, nicht der Fall, denn sie wurde ihm erst in den Abendstunden vorgelegt.
**) Vgl. Deutsche Dokumente, Anhang IX, Jagow, a. a. O., Bethmann Hollweg, Betrachtungen zum Weltkriege (Berlin 1919), S. 138 f. - Die Darstellung Bethmanns und Jagows bestätigt eine Textveränderung bei der ersten Veröffentlichung des Runderlasses vom 21. Juli (Deutsche Dokumente Nr. 100). In diesem ohne Kenntnis des Wortlauts der Wiener Note geschriebenen Erlasse werden die österreichisch-ungarischen Forderungen als "billig und maßvoll" bezeichnet, in der Anlage zur Reichstagsdenkschrift vom 3. 8. 1914 dagegen nur als "gerechtfertigt".
Wann das Ultimatum Tschirschky in Wien ausgehändigt worden ist, läßt sich nicht mehr feststellen. "Nach den Telegrammen des Grafen Berchtold vom 21. und 22. Juli (Nr. 46 und 47 des österreichischen Rotbuches) scheint es, daß es eigentlich erst am 22. früh geschehen sollte. Das Telegramm Herrn von Tschirschkys vom 21. Juli (Nr. 103 der Dokumente) und sein Bericht vom gleichen Tage (Nr. 106 der Dokumente) lassen jedoch erkennen, daß die Übergabe und Absendung in Wien am 21. nachmittags und der Eingang in Berlin am 22. nachmittags erfolgt ist." (Jagow, Untersuchungsausschuß, Beilage 1, S.30.) 

glaube, besonders betont zu haben, daß ich die vielen Forderungen nicht glücklich fände. Der Graf entgegnete, da sei nun nichts mehr zu machen. Die Note sei bereits nach Belgrad übersandt und werde dort andern Tags — den anderen Morgen, wie er irrtümlich angab — übergeben werden. Ich drückte dem Botschafter mein ernstes Befremden aus, daß die Mitteilung zu spät erfolgt, daß uns keine Gelegenheit geboten würde, dazu Stellung zu nehmen. ... Auch dem Reichskanzler erschien die Note zu scharf. Wir mußten uns aber sagen, daß es materiell nicht mehr möglich war, Bedenken in Wien zur Geltung zu bringen, daß diesbezüglich Schritte daher nutzlos sein würden. (Untersuchungsausschuß, Beilage I, S. 30, 31.)
Bei der Haltung der Belgrader Regierung in der Vergangenheit sowohl wie während der Krisis 1914 konnte es deutscherseits nicht als wahrscheinlich angesehen werden, daß Serbien den Wiener Forderungen nachkommen würde. Von vornherein war also damit zu rechnen, daß militärische Operationen Österreich-Ungarns gegen Serbien stattfinden würden. Es verdient aber hervorgehoben zu werden, daß die deutsche Regierung keineswegs einen Krieg gegen Serbien unter allen Umständen wünschte oder gar ihn herbeizuführen suchte. Dies geht zur Genüge aus ihrer Stellungnahme zur serbischen Antwortnote hervor. (Siehe die Randbemerkung des Kaisers unter der serbischen Antwortnote, Deutsche Dokumente Nr. 271, sein Schreiben an Jagow vom 28. Juli, Deutsche Dokumente Nr. 293, das Schreiben des Generals von Plessen an den Generalstabschef vom gleichen Tage, "Deutsche Politik", IV, 29, vom 28. 7. 1919, und das Telegramm des Reichskanzlers nach Wien, ebenfalls vom 28. Juli, Deutsche Dokumente Nr. 323.)
Die Haltung der deutschen Regierung in der Zeit bis zum Ultimatum an Serbien setzt sie mancherlei berechtigten Kritik aus. Es . kann aber niemand in Kenntnis der amtlichen Aktenstücke behaupten, sie sei von dem Streben nach Weltherrschaft diktiert worden. Die Sorge um die Erhaltung des Bestehenden, die Furcht vor den Folgen, die das Übergewicht des Dreiverbandes für den Frieden Europas haben könnte, standen im Vordergrund der Erwägungen. Am Balkan erstrebte die Entente neuen Machtzuwachs, dort erwuchsen damit neue Gefahren. "Dem Weltfrieden war gedient, er war für lange Zeit gesichert, wenn es gelang, die großserbischen Umtriebe zur Ruhe zu bringen"*). Diese Auffassung hat Bethmann Hollweg gegenüber dem Untersuchungsausschuß wohl zu begründen gewußt. Er leitete seine zusammenfassende Denkschrift folgendermaßen ein:
Das Urteil über unsere Behandlung der österreichischen Anträge vom 5. Juli 1914 hängt wesentlich davon ab, welcher Wert der Erhaltung der österreichisch-ungarischen Großmachtstellung beizumessen war. Die Notwendigkeit eines starken Österreich ist von deutschen Staatsmännern so oft und nachdrücklich ausgesprochen worden, daß ein fester Grundsatz unserer auswärtigen Politik als vorliegend anerkannt werden wird. Fürst Bismarck ist auch in der

*) Bethmann Hollweg, a. a. O., S. 21.

Zeit, wo er im Abschluß des Rückversicherungsvertrages den russischen Balkanwünschen Entgegenkommen bewies, nicht von der Auffassung abgewichen, daß "die Existenz Österreich-Ungarns als einer starken und unabhängigen Großmacht für Deutschland eine Notwendigkeit" sei, ja "eine Notwendigkeit allerersten Ranges" (Brief an Lord Salisbury vom 22. November 1887), die uns gebieten würde, selbst mit der Waffe für die Aufrechterhaltung dieses Zustandes einzutreten. Die Nachfolger des Fürsten Bismarck waren auf ein bündnisfähiges Österreich um so mehr angewiesen, je weiter sich die gegnerische Koalition, die Sorge des Reichsgründers, entwickelte und befestigte. Als Fürst Bülow während der Annexionskrise 1908/09 "das deutsche Schwert in die Wagschale der europäischen Entscheidung" (Fürst von Bülow, Deutsche Politik, Seite 60) warf, als ich während der Balkankrise 1912/13 unsere Entschlossenheit aussprach, unserem Bundesgenossen bei der Verfolgung seiner legitimen Interessen zur Seite zu stehen (Rede im Reichstag vom 3. Dezember 1912), ging es um dieses von Bismarck aufgestellte Prinzip. Eine Bedrohung der Unabhängigkeit Österreichs gefährdete unsere eigene Weltstellung und zwang uns unseren politischen Kurs auf.
Es wird nicht nachgewiesen werden können, daß die Wahrung der österreichischen Machtstellung für uns im Jahre 1914 von minderer Bedeutung gewesen wäre als zuvor. Die Anschauung, daß Österreich-Ungarn ein zum Sterben verdammter Staat, ja bereits eine Leiche sei, und daß es Deutschland als Pflicht der Selbsterhaltung betrachten müsse, sein Schicksal von dem seines alten Bundesgenossen zu trennen, ist zwar mehrfach vertreten worden, ließ aber die entscheidenden Momente außer acht. Die Abwendung von Österreich hätte uns keine neuen Freunde verschafft. Der Sasonowsche Wink: "Lachez l'Autriche et nous lacherons la France" hatte doch nur den Wert eines gelegentlichen Apercus ohne die Möglichkeit politischer Konsequenzen. Österreich aber wäre in die Lage gekommen, neue Freunde zu wählen, es hätte bei den Westmächten offene Arme gefunden. Das angeblich sterbende Österreich würde sich als für die Zwecke der Einkreisungspolitik lebenskräftig genug erwiesen haben, und die Isolierung des Deutschen Reiches wäre vollendet gewesen. Für den Gedanken einer deutsch-russischen Aufteilung Österreich-Ungarns, der gelegentlich aufgetaucht ist, wäre nicht nur die öffentliche Meinung Deutschlands unzugänglich gewesen, er hätte auch realpolitisch die slawischen Probleme in einer für Deutschland unerträglichen und dauernd den Frieden mit Rußland ausschließenden Weise verschoben. Für Deutschland gab es keine Möglichkeit von Optionen. Die Weltlage war starr geworden und hatte sich seit den beiden letzten Balkankrisen auf der allgemein unveränderten Basis nur insofern weiter entwickelt, als die deutschfeindliche Koalition nach dem Anschluß Englands an den russisch-französischen Zweibund in ihren Absprachen und Vorbereitungen eine diplomatisch und militärisch gebundene Konsistenz gewonnen hätte. Ein Rückzug aus unserer bisher, trotz ständigen Kriegsrisikos, festgehaltenen Position mit der Preisgabe Österreich-Ungarns hätte den kampflosen Abbau unserer eigenen Weltstellung bedeutet. Indem wir Österreich in der neuen Krise bundestreue Haltung zusicherten, nahmen wir ein deutsches Interesse wahr, das anerkannte Interesse der Erhaltung Österreich-Ungarns als bündnisfähige Großmacht. (A. a. 0., S. 12.)

Jagow hat dem Untersuchungsausschuß erklärt:
Deutschland hatte keine Wahl; nicht aus romantischer Treue, sondern um der eigenen Stellung willen konnte es Österreich nicht fallen lassen. (A. a. 0., S. 27.)
Von denen, die sich zu einer nachträglichen Kritik der damaligen Haltung der deutschen Regierung befähigt fühlen, wird vielfach übersehen, daß die auswärtige Politik in hohem Grade zwangsläufig ist. Bethmann Hollweg und Jagow haben durchaus mit Recht darauf hingewiesen, daß sie am 5. Juli 1914 Österreich-Ungarn nicht im Stich lassen konnten. Die Möglichkeit der Loslösung aus dem bestehenden Bundesverhältnis war in diesem Zeitpunkt nicht mehr geboten. Rasches Handeln war erforderlich. Die Frage, ob Österreich-Ungarn fallen gelassen werden solle, konnte nicht im Augenblick einer Krisis gelöst werden. Diese Wendung hätte langer und ausgiebiger Vorbereitungen bedurft. Ein dringender Anlaß zu einer derartigen Politik, etwa mit Rücksicht auf die Gefahren, die das Bundesverhältnis für die Sicherheit des Reiches hatte, lag nicht vor*). Gegenüber den englisch-deutschen und den französischdeutschen Gegensätzen, die seit vielen Jahren die Hauptsorge der Reichsregierung bildeten, erschienen der Balkan und der russischösterreichische Gegensatz als ein Nebenkriegsschauplatz. Bei der damaligen Weltlage wäre auch der Versuch seiner Loslösung von Österreich-Ungarn niemals gelungen. Die Geheimhaltung der erforderlichen Schritte wäre keinesfalls möglich gewesen. Die Wiener Regierung, von London, Petersburg oder Paris aus verständigt, hätte sofort ihrerseits neue Verbindungen gesucht. Sie würde damals sehr viel leichter als Deutschland Anschluß gefunden haben, so daß letzteres durch seine eigene politische Schwenkung völlig isoliert worden wäre.
Bei Ausbruch der Julikrisis 1914 standen der deutschen Regierung nur noch zwei Wege offen: Sie konnte Österreich-Ungarn freie Hand lassen und sich die Möglichkeit späterer Vermittlung vorbehalten. Es stand aber auch zur Wahl, die Aktion gegen Serbien unter deutscher Mitwirkung bzw. Kontrolle - und damit vollster deutscher Verantwortlichkeit - vor sich gehen zu lassen. Der letztere Weg wäre schon deshalb der richtigere gewesen, weil in den Augen der Welt Deutschland ohnehin mitverantwortlich erscheinen mußte. Die Ereignisse haben es sattsam bewiesen. Der erste Weg, der Wiener Regierung freie Hand zu lassen, eröffnete die besseren Aussichten für eine gründliche Lösung der serbischen Frage. Der zweite bot eine größere Gewähr für die Erhaltung des Weltfriedens. Da die Gefahr eines Weltkrieges tatsächlich bereits sehr nahe gerückt war, mußte der zweite Weg gewählt werden. Er gewährte der Berliner Regierung die Möglichkeit, jederzeit - auch gegen den Willen Österreich-Ungarns - die schwebende Balkanfrage dem europäischen Frieden zu opfern, ein Vorgehen, das sie im späteren Verlauf der Krisis versucht hat, jedoch vergebens, nachdem sie den Herren in Wien zu Anfang freie Hand gelassen hatte. Der

*) Das Bündnis mit Österreich-Ungarn hat naturgemäß und zu allen Zeiten für Deutschland die Gefahren einer kriegerischen Verwickelung erhöht. Darauf hat bereits Bismarck in seiner Rede vom 6. Februar 1888 hingewiesen.

Irrtum in der Wahl des Weges erscheint heute schwer verständlich. Man muß aber berücksichtigen, daß der deutschen Regierung nicht so vollständig, wie heute aller Welt, bekannt gewesen ist, wie groß 1914 die Gefahr eines europäischen Krieges bereits angewachsen war, ehe noch die verhängnisvollen Schüsse in Sarajevo fielen.
In ihrer Note vom 16. Juni 1919 haben die Alliierten und Assoziierten Mächte behauptet, "während langer Jahre hätten die Regierenden Deutschlands, getreu der preußischen Tradition, die Vorherrschaft in Europa angestrebt... Sie hätten getrachtet, sich dazu fähig zu machen, ein unterjochtes Europa zu beherrschen und zu tyrannisieren... Als sie festgestellt hätten, daß ihre Nachbarn entschlossen wären, ihren anmaßenden Plänen Widerstand zu leisten, da hätten sie beschlossen, ihre Vorherrschaft mit Gewalt zu begründen".
In den deutschen und österreichisch-ungarischen Akten findet sich nicht der geringste Beleg für diese Behauptungen. Deutscherseits ist die Aktion gegen Serbien stets nur als Präventivmaßnahme betrachtet worden.
Ferner haben die Alliierten und Assoziierten Mächte in ihrer Antwort auf die deutschen Gegenvorschläge erklärt: Die Mittelmächte hätten versucht, "die Lösung einer europäischen Frage den Nationen Europas durch die Drohung eines Krieges aufzuzwingen ... Die serbische Frage wäre nicht und hätte niemals eine rein österreichisch-serbische Frage sein können... Sie war ihrem Wesen nach eine europäische Frage, da sie die Kontrolle des Balkans aufs Spiel setzte und daher nicht nur den Frieden auf dem Balkan, sondern den ganz Europas betraf".
Die Berechtigung dieser Auffassung vom Standpunkt des Feindbundes aus läßt sich vertreten, sobald man zugibt, daß Serbien der Exponent einer aggressiven Balkanpolitik des Dreiverbandes war. Sicher ist aber, daß man in Berlin im Juli 1914 . nicht eine Lösung der serbischen Frage im Sinne einer europäischen Balkanfrage anstrebte, sondern allein eine nachhaltige Klärung der unhaltbar gewordenen austro-serbischen Beziehungen. Gewiß kann man der deutschen Regierung den Vorwurf machen, daß sie die europäische Gesamtlage nicht richtig einschätzte. Die Unterstellung weitgehender Pläne, die ihr jetzt nachträglich von ihren Gegnern vorgeworfen werden, entbehrt jedoch offensichtlich jeder Begründung. Vergegenwärtigt man sich all die Hilflosigkeit, Angst und Planlosigkeit, die in dem deutschen Aktenmaterial offenbar wird, dann wirkt die Auffassung der Alliierten und Assoziierten Mächte wie ein Hohn, wenn diese in der vorgenannten Denkschrift behaupten: "Das autokratische Deutschland wollte unter dem Einfluß seiner Lenker mit aller Macht die Vorherrschaft erlangen. Die Nationen Europas waren entschlossen, ihre Freiheit zu retten.
Die Furcht der Führer Deutschlands, es möchten ihre Pläne der Weltherrschaft durch die wachsende Flut der Demokratie zunichte gemacht werden, führte sie dazu, alle ihre Bemühungen darauf zu richten, jeden Widerstand mit einem Streiche zu brechen, indem sie Europa in einen Weltkrieg stürzten... In der Erkenntnis, daß es seine Ziele nicht anders erreichen konnte, entwarf und begann Deutschland den Krieg". Wenn diese Absichten bestanden hätten, müßten sie sich bereits in der Zeit vor der Überreichung des österreichisch-ungarischen Ultimatums deutlich offenbaren. Wir finden aber in den Akten ebensowenig Spuren von Plänen der Weltherrschaft wie von der wachsenden Flut der Demokratie. Die internen Meinungsäußerungen der Dreiverbandsmächte, lassen sich weit eher als autokratisch, denn als demokratisch bezeichnen.
Schließlich ist die Pariser Schuldkommission in ihrem Bericht vom 29. März 1919 zu dem Ergebnis gekommen: "Der Krieg ist von den Zentralmächten ebenso wie von ihren Verbündeten, der Türkei und Bulgarien, mit Vorbedacht geplant worden. Er ist das Ergebnis von Handlungen, die vorsätzlich und in der Absicht begangen wurden, ihn unabwendbar zu machen". Von diesem Vorsatz zum Weltkriege fehlt, wie gesagt, in dem deutschen Urkundenmaterial jede Spur. Daß die Türken und Bulgaren an der Entstehung des Weltkrieges nicht beteiligt waren, haben die Aktenveröffentlichungen ebenfalls erwiesen. Die Berliner und Wiener Absichten, die auf einem Anschluß Bulgariens und der Türkei an den Dreibund abzielten, sollten in einer Zeit verwirklicht werden, die erst nach der Regelung des austro-serbischen Konfliktes lag. Eine Berechtigung der Hauptanklagen unserer Gegner kann also nicht zugegeben werden.
Von anderer, namentlich von deutscher Seite, ist ferner der Vorwurf, der nicht immer als Vorwurf gemeint ist, erhoben worden, die deutsche Regierung hätte einen Präventivkrieg planmäßig herbeigeführt. Die Anhänger dieser Auffassung berufen sich unter anderem auf die Reichstags-Denkschrift vom 3. August 1914, in der es heißt: "Wir waren uns hierbei wohl bewußt, daß ein etwaiges kriegerisches Vorgehen Österreich-Ungarns gegen Serbien Rußland auf den Plan bringen und uns hiermit, unserer Bundespflicht entsprechend, in einen Krieg verwickeln könnte". Diese Schlußfolgerung läßt aber außer acht, daß eine Kriegsgefahr in jenen Jahren immerwährend bestand. In der Politik ist alles relativ. Es darf daher nicht gefragt werden: Bestand bei einem Vorgehen gegen Serbien die Gefahr eines Weltkrieges? Die Frage muß vielmehr lauten: Wie groß war diese Gefahr, bzw. wie hoch wurde sie deutscherseits eingeschätzt? Nun hat die deutsche Regierung ganz offensichtlich geglaubt, daß Rußland nicht genügend gerüstet sei und
deshalb auch nicht zum Kriege schreiten werde. Dies geht nicht nur aus deutschen Aktenstücken (Deutsche Dokumente Nr. 72, Anhang IV, Nr. 2), sondern auch aus den österreichisch-ungarischen (Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 6) und selbst aus denen unserer Gegner hervor (z. B. aus dem Englischen Blaubuch Nr. 32, 161; dem Belgischen Graubuch, II, Nr. 12). An die Möglichkeit, daß Frankreich und England vielleicht die Gelegenheit benutzen würden, einen Krieg herbeizuführen, falls Österreich-Ungarns Vorgehen Deutschland ins Unrecht setzte, hat man offenbar überhaupt nicht gedacht; ebensowenig daran, daß Österreich-Ungarn weitergehende Pläne haben könnte, als die, welche es nach Berlin mitteilte. Die Regierung Bethmann Hollwegs hat zweifellos viele Mängel gehabt. Durch bewußten Leichtsinn wird sie aber nicht gekennzeichnet. Deshalb muß man als sicher annehmen, daß sie für einen beabsichtigten Präventivkrieg Vorbereitungen getroffen haben würde. Von derartigen Vorbereitungen ist aber nichts bekannt. Im Gegenteil wissen wir, daß Maßnahmen, die im Falle eines bevorstehenden Krieges unerläßlich gewesen wären, nicht ausgeführt worden sind. Es sei nur an die obenerwähnte Verproviantierung der Festungen Straßburg und Neubreisach, sowie an die Verringerung des Etats für Munitionsbeschaffung um 3% Millionen am 27. Juli erinnert. Der damalige Stellvertretende Chef des Generalstabs der Armee hat in seinen Aussagen vor dem Untersuchungsausschuß bekundet: "Ich kann auf das bestimmteste erklären, daß vor der Überreichung des Ultimatums an Serbien von deutscher Seite keine militärischen Vorbereitungen und Rüstungen stattgefunden haben". (Beilage 1, S. 64.) Falkenhayn, damals preußischer Kriegsminister, hat dem Untersuchungsausschuß erklärt: "Militärische Vorbereitungen und Rüstungen haben vor der Überreichung des Ultimatums an Serbien auf meine Anordnung nicht stattgefunden". (A. a. 0., S. 63.) Der damalige Stellvertretende Chef des Admiralstabs, Vizeadmiral Behncke, sagte aus: "Auf Grund der am 5. Juli von Seiner Majestät dem Kaiser gegebenen Weisungen und in voller Berücksichtigung der Auffassung und der Wünsche des Auswärtigen Amts, mit dem dauernde Verbindung aufrecht erhalten wurde, haben in der Zeit vom 5. bis 23. Juli keinerlei militärische Rüstungen stattgefunden". (A. a. 0., S. 65.) Andere Offiziere an maßgebender Stelle haben die gleichen Angaben gemacht.
Die Richtigkeit dieser Erklärungen wird durch die Akten des preußischen Kriegsministeriums, insbesondere der Mobilmachungs- und der Etatsabteilung, sowie des Verwaltungsdepartements bestätigt. (A. a. O., Heft 2, S. 8.)
Mit den finanziellen und wirtschaftlichen Vorbereitungen stand es nicht anders als mit den militärischen. Bethmann Hollweg hat dem Untersuchungsausschuß auf die Frage V geantwortet:
Auch zu besonderen finanziellen oder wirtschaftlichen Vorbereitungen habe ich vor Überreichung des Ultimatums die zuständigen Ressorts nicht aufgefordert. Die finanziellen Mobilmachungsvorbereitungen erfolgten von langer Hand her und wurden dauernd ohne Rücksicht auf die jeweilige internationale Lage auf dem laufenden erhalten. Verhandlungen über wirtschaftliche Vorbereitungen waren in der kritischen Zeit schon seit längerem und unabhängig von dem österreichisch-serbischen Konflikt im Gange. (Beilage 1, S. 11.)
Der damalige Staatssekretär des Innern hat ebenfalls bestätigt, "daß in der Zeit zwischen dem Attentat von Sarajevo und der Überreichung des österreichischen Ultimatums, soweit sein Geschäftsbereich in Frage komme, seitens der Reichsleitung besondere wirtschaftliche Kriegsvorbereitungen nicht angeordnet wurden". (A.a.O., S. 81.) Zwar sind - auf Wunsch des Kaisers, der noch in Norwegen war - die Hamburg-Amerika-Linie am 20. Juli und der Norddeutsche Lloyd am 21. Juli auf die gespannte Lage hingewiesen worden (Deutsche Dokumente Nr. 80, 90). Daß man jedoch an einen Weltkrieg nicht dachte, beweist die Tatsache, daß bei Kriegsausbruch alle deutschen Handelsschiffe wie sonst unterwegs waren. Deutschland hat, ebenso wie Österreich-Ungarn, noch bis zum 30. Juli Gold nach London und Paris gesandt, während z. B. England bereits am 27. Juli Vorkehrungen traf, um das Gold festzuhalten*).
Tisza hat am 1. Juli gefordert, daß, wenn es zum Kriege kommen solle, vorerst eine diplomatische Konstellation geschaffen werden müßte, welche das Kräfteverhältnis weniger ungünstig für die Mittelmächte gestaltete (Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 2). Diese Forderung ist so selbstverständlich, daß sich aus ihrer Nichterfüllung folgern läßt, die Absicht eines europäischen Krieges habe in Berlin nicht bestanden. Das Verhalten der Ententemächte zur Zeit der Balkankriege veranschaulicht, was Tisza mit diplomatischer Vorbereitung eines Krieges meinte. Nach Vermittlung des grundlegenden serbisch-bulgarischen Vertrages umspannte Rußland im Sommer 1912 den Balkan mit einem ganzen Netz von Bündnissen und Militärkonventionen. Dann schloß es am 8. Juli einen Geheimvertrag mit Japan, der ihm den Rücken sicherte. Am 16. Juli desselben Jahres wurde das erste russisch-französische Marine-Abkommen getroffen, das durch englisch-französische Abmachungen ergänzt wurde, denen die englisch-russische Aussprache vom September 1912 folgte (Besuch Sasonows in Baimoral, 23. bis 28. September). Ihren Abschluß scheint diese Entwicklung in der diplomatischen Bestätigung der militärischen und maritimen Abmachungen zwischen England und Frankreich durch den bekannten Notenwechsel vom 22. und 23. November 1912 gefunden zu haben.

*) Bericht des im Kriege eingesetzten Comptrollers der Londoner Filialen deutscher Banken, zitiert im 49. Geschäftsbericht des Vorstands der Deutschen Bank für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1918.

Wenn die deutsche Regierung den Weltkrieg auch nur im Sinne eines Präventivkrieges gewollt hätte, mußte sie ähnliche Vorbereitungen treffen. Dies ist jedoch offenbar nicht geschehen*).
Selbst die beabsichtigte Defensivaktion gegen Serbien hätte diplomatisch besser vorbereitet werden müssen. Berlin hat auch in dieser Hinsicht eingegriffen, als es sah, daß Wien das Notwendigste versäumte. Am 15. Juli beauftragte Jagow den deutschen Botschafter in Wien, die dortige Regierung darauf hinzuweisen, daß es unerläßlich sei, sich mit Italien über die Aktion gegen Serbien zu verständigen, die Frage der Kompensationen, der schon seit langem strittigen Auslegung des Artikels VII des Dreibundvertrages und des Bündnisfalles zu regeln (Deutsche Dokumente Nr. 46). In der Folgezeit ist in dieser Hinsicht deutscherseits noch viel veranlaßt worden, und fast der ganze Schriftwechsel zwischen Berlin und Rom behandelt die Frage der Kompensationen für Italien. Berchtold hat aber für den von Jagow vertretenen, durchaus richtigen Gesichtspunkt kein Verständnis gezeigt. Wie aus dem Österreichischen Rotbuch hervorgeht, hat auch der Botschafter Merey in Rom in dieser Hinsicht eine unheilvolle Rolle gespielt (Österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr. 50, 85, 86, III, Nr. 10, 60). Noch am 28. Juli vertrat er den Standpunkt: "Mein ceterum censeo ist, Kompensationsansprüche rundweg in Abrede zu stellen und uns ja in keine heiklen Verhandlungen oder Engagements einzulassen". Diese Verhandlungen betrafen aber immer nur die Stellungnahme Italiens zum austro-serbischen Konflikt. Erst am 30. Juli ist davon die Rede, daß Österreich-Ungarn seinen Standpunkt in der Kompensationsfrage mit Rücksicht auf die italienische Haltung im drohenden Weltkriege aufgeben bzw. abändern müsse (Österreichisches Rotbuch 1919, III, Nr. 32).
Die beabsichtigte Annäherung an Bulgarien trug ebenfalls nicht den Charakter einer Vorbereitung auf den Weltkrieg. Der geplante Bündnisschluß wurde zunächst auf unbestimmte Zeit verschoben (Deutsche Dokumente Nr. 19,21,22, Österreichisches Rotbuch 1919, I, Nr. 11). Um eine Ausdehnung des Konfliktes zu verhüten, wurden sehr zahlreiche Schritte unternommen, die die Neutralität Bulgariens in dem österreichisch-serbischen Streit zum Ziel hatten. In der ersten Periode der Krisis geschah dies lediglich in dem Streben nach Lokalisierung, später allerdings erschien die neutrale Haltung Bulgariens als Vorbedingung für die Bündnistreue Rumäniens (Deutsche Dokumente Nr. 544, 549). Auf Bulgarien, einen für den Weltkrieg wertvollen Bundesgenossen, hat

*) Die Entsendung Ballins nach London und der ihm erteilte Auftrag (Deutsche Dokumente Nr. 56) zeugen nicht für einen Willen zum Kriege. Dasselbe ist vom Schreiben Bethmann Hollwegs an den Statthalter in Elsaß-Lothringen (Deutsche Dokumente Nr. 58) zu sagen.

man in dieser Periode offensichtlich nicht gerechnet. Nur einmal - am 26. Juli - erkundigte sich Jagow in Wien nach dem Stand der Angelegenheit (Deutsche Dokumente Nr. 228). Die Verhandlungen über einen österreichisch-bulgarischen Vertrag haben bekanntlich erst am 2. August begonnen (Deutsche Dokumente Nr. 673).
Im Falle der Absicht eines Weltkrieges hätte Deutschland sich gewiß auch frühzeitig die Unterstützung der Türkei gesichert. Am 14. Juli wurde jedoch die Frage des Anschlusses der Türkei , an den Dreibund verneint. Wie aus dem Telegramm Jagows nach Wien und Konstantinopel hervorgeht, rechnete dieser damals nicht mit einem Weltkriege (Deutsche Dokumente Nr. 45). Im ersten Stadium der Verhandlungen war überdies nur von einem Anschluß der Türkei an Österreich-Ungarn die Rede. Die Anregung zu einem deutsch-türkischen Bündnis gegen Rußland ging von der Türkei aus (Deutsche Dokumente Nr. 285). Deutscherseits wurde dieser Vorschlag am 28. Juli angenommen (Deutsche Dokumente Nr. 320). Da aber der militärische Wert des türkischen Bündnisses sehr gering eingeschätzt wurde, ist anzunehmen, daß bei diesem Vertragsschluß die Furcht vor einem Abschwenken der Türkei zum Dreiverband (siehe Randvermerk des Kaisers zu Nr. 149 der Deutschen Dokumente) den Ausschlag gab, und nicht der Gedanke, die Zahl der Mitkämpfer zu erhöhen.
Wäre deutscherseits ein Präventivkrieg geplant worden, dann hätte man sich in erster Linie der Bundestreue Rumäniens versichert. Nichts dergleichen geschah. Alle beabsichtigten und vollzogenen Verhandlungen mit Rumänien drehten sich um die Frage der künftigen politischen Zusammenhänge auf dem Balkan. Vom Kriege und Rumäniens Teilnahme am Kriege ist in der Zeit vor dem Wiener Ultimatum niemals die Rede gewesen. Am 26. und wiederum am 29. Juli bat die rumänische Regierung, "rechtzeitig informiert zu werden, wenn die Ereignisse zum Kriege drängen sollten" (Deutsche Dokumente Nr. 208, 351). Eine Antwort ist anscheinend nicht gegeben worden. Die Frage des Bündnisfalles und des rumänischen Eingreifens in den Krieg wurde erst nach der allgemeinen russischen Mobilmachung zur Sprache gebracht (Deutsche Dokumente Nr. 506, 582).
Militärische Maßnahmen sind deutscherseits in dieser Zeit nicht getroffen worden; dasselbe gilt von wirtschaftlichen Kriegsvorbereitungen. Gewiß war "das Heer, wie immer, bereit", wie der Generalleutnant Graf Waldersee in seinem Schreiben vom 25. Oktober 1919 sagte (Deutsche Dokumente, Band I, Seite XV). Im Falle eines beabsichtigten Krieges gibt es jedoch neben der allgemeinen Bereitschaft der Armee zahllose militärpolitische Maßnahmen, die getroffen werden müssen. Wir wissen aber aus dem ersten Entwurf eines Schreibens des Generals Conrad vom 1. August (Gooss, S. 311), daß bis zu diesem Tage nicht einmal eine Verständigung zwischen den deutschen und österreichisch-ungarischen Generalstäben über den Aufmarsch gegen Rußland herbeigeführt worden war.
Gewiß zeugen alle diese Tatsachen gegen die Behauptung, Deutschland habe den Weltkrieg gewollt, bzw. einen Präventivkrieg herbeigeführt. Andererseits ist nicht zu bestreiten, daß sich die Reichsregierung in eine außerordentlich große Gefahr begeben hat, ohne genügende politische und militärische Vorbereitungen getroffen zu haben. Es wäre sehr viel besser gewesen, der so oft behauptete Potsdamer Kronrat hätte stattgefunden, und es spricht für die bessere politische Schulung unserer Gegner, daß sie so lange an diesem Märchen festgehalten haben und gar nicht fassen können, daß Deutschland bei Kriegsausbruch derartig mangelhaft vorbereitet war.
Der Weltkrieg ist aus dem österreichisch-ungarischen Kriege gegen Serbien hervorgegangen, und an der Entstehung des letzteren ist die deutsche Regierung zweifellos mitschuldig. Daraus zu folgern, daß sie den Weltkrieg verschuldet habe, wäre nur zulässig, wenn einwandfrei festgestellt würde, daß die europäische Konflagration eine unausbleibliche und unabwendbare Folge des österreichisch-ungarischen Vorgehens gegen Serbien war. Dieser Nachweis ist noch nicht erbracht. Die Berliner Regierung scheint sich jedenfalls zugetraut zu haben, die Gefahr des Weltkrieges bannen zu können. Dies Problem gehört zu den politischen Wahrscheinlichkeitsrechnungen, für die es eine objektive Lösung nicht gibt.
Die deutsche Regierung hat ihre Einwilligung zu einem Kriege Österreich-Ungarns gegen Serbien gegeben. Das Ziel, das ihr hierbei vorschwebte, war einzig und allein die Unterdrückung der großserbischen Bewegung, zur Erhaltung des Bestandes und der Bündnisfähigkeit der Donaumonarchie. Es fragt sich zunächst, weshalb Deutschland seinen Verbündeten in dieser ihn nur mittelbar berührenden Angelegenheit unterstützte, und ob es notwendig war, wegen der serbischen Frage Gefahren zu laufen. Das letztere wird von der weiteren Frage der Notwendigkeit einer Aktion abhängen. Darüber, daß Deutschland "im Einklang mit seinen Bündnispflichten und seiner alten Freundschaft treu an der Seite Österreich-Ungarns stehen werde", bestand damals weder bei der Regierung, noch - daran sei besonders erinnert - bei der deutschen Öffentlichkeit der geringste Zweifel. Tschirschky hat bereits am 2. Juli erklärt, Kaiser Franz Joseph könne "sicher darauf bauen, Deutschland geschlossen hinter der Monarchie zu finden, sobald es sich um die Verteidigung eines ihrer Lebensinteressen handele" (Deutsche Dokumente Nr. 11). Was Tschirschky hier ohne Auftrag erklärte, war richtig, selbst im weitesten Sinne, wenn dies auch heute mancher nicht wahr haben mag. Ebenso haben offenbar weder der Kaiser, noch der Kanzler, noch das Auswärtige Amt am 5. und 6. Juli irgendwie gezögert, die deutsche Unterstützung zuzusagen. Klug und überlegt war diese Haltung vielleicht nicht, sie entsprach aber jedenfalls dem Empfinden der allgemeinen N Meinung.
Sodann ist die Frage zu stellen, ob ein Vorgehen gegen Serbien von dem Gesichtspunkte der Erhaltung Österreich-Ungarns aus notwendig war. In Berlin und Wien hat man diese Frage seinerzeit übereinstimmend bejaht. Daß Österreich-Ungarn Grund und Anlaß hatte, gegen Serbien vorzugehen, ist früher auch in anderen Ländern anerkannt worden. Zum Beispiel hat das englische Ministerium des Äußern selbst nach Kriegsausbruch dies nicht bestritten. Es heißt in der Einleitung zum englischen Blaubuch: "Österreich war provoziert. Es hatte über eine gefährliche Volksbewegung gegen seine Regierung zu klagen". Im übrigen scheinen die russischen und serbischen Veröffentlichungen die Auffassung der österreichisch-ungarischen Regierung zu rechtfertigen. Die Feindbundsmächte nehmen heute den entgegengesetzten Standpunkt ein. Sie sind aber Partei, da sie zum Teil Anstifter Serbiens waren, während den Mittelmächten als Geschädigten ebenfalls das objektive Urteil mangelt. Dieses kann erst die Geschichte fällen.
Ferner fragt es sich, ob bei dem beabsichtigten Vorgehen gegen Serbien Methoden vorgesehen wurden, die zu den damals üblichen und erlaubten gehörten. Dies wird man an der Hand der oben (S. 42) angeführten Beispiele kaum verneinen können. Selbst im Rahmen des Versailler Völkerbundes ist der Krieg als Mittel der Politik zulässig.
Schließlich und vor allem ist zu fragen, ob das Serbien gegenüber beabsichtigte Verfahren zweckentsprechend und daher politisch klug war. Dies muß verneint werden, und zwar nicht allein im Hinblick auf die eingetretenen Folgen. Jedoch fehlt jeder Anhalt für einen dolus malus der Beteiligten.
Selbst die Notwendigkeit und (um von der Unzweckmäßigkeit abzusehen) die Zulässigkeit des Vorgehens gegen Serbien zugegeben, bleibt aber unerklärlich, weshalb die Berliner Regierung Österreich-Ungarn ihre unbedingte Unterstützung gewährte, und weshalb sie - trotz des zu gewärtigenden Wiener Widerstrebens - nicht eine Kontrolle über das beabsichtigte Vorgehen ausbedungen hat. Heute ist es allerdings schwer möglich, sich in die Lage der damals verantwortlichen Personen zu versetzen und ihre Entschlüsse sachlich und gerecht zu beurteilen. In der Erklärung des damaligen bayerischen Gesandten in Wien an den Untersuchungsausschuß heißt es aber:
Diese Blankovollmacht, die sich heute als verhängnisvoll darstellt, erschien uns damals in Wien in der Entwicklung der Ereignisse nach dem Attentat durchaus nicht als zu weitgehend, sondern als etwas selbstverständliches, ja sogar als das mindeste, was Deutschland tun konnte. Unser Haupteindruck war, daß Österreich-Ungarn, dessen Balkanpolitik ich keineswegs gutheißen will, durch die großserbische Propaganda in seiner Existenz bedroht war, und daß Deutschland den Bundesgenossen, der ihm Beweise seiner Treue (Algeciras, Haag, Ischl) gegeben hatte, nicht im Stiche lassen könne. Eine gewisse Scheu, auf die Erwägungen und Beschlüsse der österreichisch-ungarischen Regierung einzuwirken, entsprach der grundsätzlichen Enthaltung der Einmischung, welche durch die große Empfindlichkeit der österreichischen wie der ungarischen Staatsmänner und der öffentlichen Meinung in Österreich-Ungarn geboten war. (Beilage 1, S. 55.)
Gewiß, der Hochmut und die Empfindlichkeit der Hofburgkreise waren ungeheuer. Auch werden diese Wiener Herren wohl geltend gemacht haben, daß sie sich auf Balkanfragen besser verstünden und schon Ruhe schaffen würden, wenn man ihnen nur freie Hand ließe. Das genügt aber nicht als Erklärung. Entweder schenkte man in Berlin der Wiener Regierung ein unbegreifliches und ganz unverdientes Vertrauen, oder man sah den Bundesgenossen als so schwach an, daß sein größter Aufwand an Energie nur eben dem gedachten Zweck genügen werde. Frühere Erfahrungen mögen auch gelehrt haben, daß man am Ballhausplatz wohl gerne große Worte machte, ihnen aber nicht die entsprechenden Handlungen folgen ließ. Tatsächlich war ja auch zuerst von einer völligen Aufteilung Serbiens die Rede (Deutsche Dokumente Nr. 18), während schließlich aus eigenem Antriebe Verzicht auf Annexionen ausgesprochen wurde - wenigstens Berlin gegenüber (Deutsche Dokumente Nr. 94). Auf jeden Fall ist aber diese Passivität der deutschen Regierung und die gleichmütige Aufnahme aller beunruhigenden Nachrichten aus Wien unbedingt zu verurteilen. Es war vom ersten Tage an klar, daß die Folgen des österreichisch-ungarischen Vorgehens uns treffen mußten. Es war damit zu rechnen, daß die ganze Last der Kraftprobe, mochte sie mit diplomatischen oder militärischen Machtmitteln zum Austrag kommen, auf Deutschlands Schultern ruhen werde. Der Vertrauensbeweis, der der Wiener Regierung durch freies Gewährenlassen erbracht wurde, war ganz ungerechtfertigt einem Bundesgenossen gegenüber, der uns bereits einmal, 1906 in der bosnischen Frage, rücksichtslos überrumpelt hatte.

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Die Haltung der Dreiverbandsmächte

 

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