Die Krisis 

Die Grundlinien der diplomatischen Verhandlungen bei Kriegsausbruch 

Von 

B. W. VON BÜLOW 

(1922)

III. Das Verhalten der Mächte

1. Der deutsche Lokalisierungsvorschlag

A. Die deutsche Auffassung

Die deutsche Regierung ist offenbar der Ansicht gewesen, daß auch im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Österreich-Ungarn und Serbien die Möglichkeit einer Gefährdung des europäischen Friedens durch Lokalisierung des Konfliktes ausgeschlossen werden könne. Bei einem österreichisch-serbischen Krieg ließen sich die Rechte und legitimen Interessen dritter Staaten auf dem Wege diplomatischer Verhandlungen wahren, wenn nur ein direktes Eingreifen in den österreichisch-serbischen Streit unterblieb. Der Gang der Ereignisse hat dieser Auffassung insofern recht gegeben, als durch die vermittelnde Tätigkeit der deutschen Regierung die Grundlage für eine Verständigung gefunden wurde, die alle Beteiligten befriedigen konnte. Lediglich die Haltung der russischen Regierung, die ohne jegliche Provokation deutscherseits Heer und Flotte gegen das die Vermittlung betreibende Deutsche Reich mobilisierte, hat die Möglichkeit vernichtet, einen Ausgleich zu schaffen.
Andererseits war es von vornherein klar, daß jedes Eingreifen dritter Mächte infolge der verschiedenen Bündnispflichten unabsehbare Folgen nach sich ziehen würde. Die deutsche Regierung wies daher, noch ehe sie den Wortlaut des österreichisch-ungarischen Ultimatums kannte, ihre Botschafter an, bei den Regierungen der Dreiverbandsmächte zu erklären, daß es das ernste Bestreben der Mächte sein müsse, den ausbrechenden Konflikt auf die beiden direkt Beteiligten zu beschränken, da es sich in der vorliegenden Frage um eine lediglich zwischen Österreich-Ungarn und Serbien zum Austrag zu bringende Angelegenheit handele. (Deutsche Dokumente Nr. 100.)
Es sei daran erinnert, daß die französische Regierung, die über die Entstehung des Balkanbundes und seine Ziele genau unterrichtet war, zu Anfang des ersten Balkankrieges eine sicherlich mit Petersburg vereinbarte Formel für eine allseitige Desinteressementserklärung vorschlug. Dies entspricht dem deutschen Lokalisierungsvorschlag, der gegen Rußland gerichtet war, ebenso wie die französische Formel von 1912 sich gegen Österreich-Ungarn richtete. Ob sich der deutsche Lokalisierungsplan unter den gegebenen Verhältnissen überhaupt durchführen ließ, und welche Voraussetzungen dazu erforderlich gewesen wären, läßt sich heute wohl nicht mehr mit Sicherheit feststellen. Aus dem amtlichen Aktenmaterial geht aber zweifelsfrei hervor, daß man in Berlin von der Zweckmäßigkeit dieser Politik überzeugt war und auf ihren Erfolg hoffte. Noch vor dem Untersuchungsausschuß erklärte Bethmann Hollweg:
Die Politik der Lokalisierung, so stark sie später verurteilt worden ist, und so skeptisch und ironisch sie auch schon, während wir sie betrieben, von einer Reihe fremder Staatsmänner und auch von einem deutschen Botschafter (gemeint ist Lichnowsky) beurteilt wurde, war doch nicht von vornherein aussichtslos. (Beilage 1, S. 21.)
Jagow urteilte nicht anders:
Um ein Übergreifen und eine allgemeine Konflagration, die das europäische Bündnissystem möglich erscheinen ließ, zu verhüten, haben wir unser Bestreben darauf gerichtet, die Austragung des Streites auf Österreich und Serbien zu beschränken, denselben zu "lokalisieren".
Diesen Standpunkt haben wir von Anfang an eingenommen und festgehalten. Auch darin, daß wir es Wien überließen, sich darüber schlüssig zu werden, welche Maßnahmen es gegen Serbien für nötig befinden würde. Es war ein österreichisch-serbischer, kein deutsch-serbischer Streitfall; wir wollten eine Verantwortung durch Einmischung in denselben weder Österreich noch den anderen Mächten gegenüber übernehmen. Eine Beteiligung an der Bestimmung des österreichischen Vorgehens hätte unsere spätere Haltung präjudiziert und uns der Aktionsfreiheit für eine eventuell nötig werdende Vermittlung unter den Mächten beraubt. (A. a. O., S. 27.)

B. Aufnahme in Frankreich

Der deutsche Lokalisierungsvorschlag fand in Paris zunächst eine freundliche Aufnahme. Der deutsche Botschafter konnte am 24. Juli melden:
Der den Ministerpräsidenten vertretende Justizminister, bei dem ich mich im Sinne Erlasses 918 (Deutsche Dokumente Nr. 100) aussprach, war sichtlich erleichtert von unserer Auffassung, daß österreichisch-serbischer Konflikt lediglich zwischen den beiden Beteiligten zum Austrag zu bringen. Französische Regierung teile aufrichtig Wunsch, daß Konflikt lokalisiert bleibe und werde sich in diesem Sinne im Interesse der Erhaltung des europäischen Friedens bemühen. Sie verhehle sich dabei freilich nicht, daß es einer Macht wie Rußland, die mit panslawistischer Strömung zu rechnen habe, nicht leicht fallen könnte, sich vollständig zu desinteressieren, namentlich dann, wenn Österreich-Ungarn auf sofortiger Erfüllung aller Forderungen bestehen sollte, auch solchen, welche mit serbischer Souveränität schwer vereinbar oder materiell nicht sogleich ausführbar... (Deutsche Dokumente Nr. 154.)
In seinen Erinnerungen betont Schoen, daß die Antwort des Ministers "vermutlich nicht aus dem Stegreif gegeben, vielmehr das Ergebnis von Erwägungen war, die in Erwartung einer österreichischungarischen nachdrücklichen Forderung und auf Grund der einlaufenden Nachrichten und Ansichten der französischen Vertreter stattgefunden hatten"*). Die Anhänger einer Einmischungspolitik am Quai d'Orsay haben es aber nicht bei der verständigen Auffassung bewenden lassen, die der stellvertretende Minister des Äußern, Bienvenu-Martin, am 24. Juli vertrat. Das französische Gelbbuch (Nr. 28) gibt bereits eine Darstellung der Unterredung des Botschafters mit dem Minister, die von der Schoens nicht unwesentlich abweicht. Das französische Ministerium des Äußern glaubte damals anscheinend, der deutsche Lokalisierungsvorschlag sei allein in Paris unterbreitet worden, und legte ihn als Drohung gegen Frankreich aus (Russisches Orangebuch Nr. 29). Diese Auffassung teilte es der Presse mit. Am 25. Juli früh brachte der "Echo de Paris" eine in diesem Sinne entstellte Wiedergabe der Erklärung des deutschen Botschafters; andere Blätter haben sich diese Darstellung ebenfalls zu eigen gemacht. Die Schritte, die Schoen unternahm, um diese irrige Auffassung richtig zu stellen, haben im französischen Gelbbuch (Nr. 36, ebenso Russisches Orangebuch Nr. 19) eine gehässige und offensichtlich tendenziös entstellte Auslegung erfahren.
Es ist sehr wohl möglich, daß der Umschwung der amtlichen französischen Auffassung auf Weisungen zurückzuführen ist, die inzwischen von Poincare und Viviani eingingen. Schoen (a. a. O.) nimmt dies an und sieht hierin den Grund für die Unterdrückung der ursprünglichen, günstigen Aufnahme des deutschen Lokalisierungsvorschlages bei der Veröffentlichung des französischen Gelbbuchs.

C. Aufnahme in England

Der deutsche Lokalisierungsvorschlag entsprach insofern der damaligen Auffassung der englischen Regierung, als diese wiederholt erklärte, sich in den österreichisch-serbischen Streit nicht einmischen und nur im Falle eines österreichisch-russischen Konfliktes eingreifen zu wollen. Am 24. Juli sagte Grey dem deutschen Botschafter, "wenn das österreichische Ultimatum an Serbien nicht zu Schwierigkeiten zwischen Österreich und Rußland führe, hätte er nichts damit zu tun". (Englisches Blaubuch Nr. 11, Deutsche Dokumente Nr. 157.) Ebenso sagte er am 25. Juli, daß er "kein Recht habe, sich zwischen Österreich und Serbien einzu-

*) W. Freiherr v. Schoen, Erlebtes, Stuttgart 1921, S. 164.

mischen" (Englisches Blaubuch Nr. 25), da dieser Streit "ihn nichts angehe". (Deutsche Dokumente Nr. 180).
Die englische Regierung ist jedoch nicht bei dieser Auffassung verblieben. Sie gab sie am 26. Juli auf. Aus welchen Gründen dies geschah, ist bisher nicht bekannt. Das englische Blaubuch (Nr. 10) berichtet jedoch, daß der französische Botschafter bereits am
24. Juli versuchte, Grey zu einer Intervention in Wien zu bewegen.

D. Aufnahme in Rußland

Die russische Regierung stellte sich von vornherein auf einen dem deutschen entgegengesetzten Standpunkt. Sie hat, offenbar in dem fünfstündigen Ministerrat vom 24. Juli nachmittags, also noch vor der Mitteilung des deutschen Lokalisierungsvorschlages, die Einmischung in den austro-serbischen Konflikt beschlossen. Ein amtliches Kommunique vom 24. Juli abends besagte, "die Regierung verfolge aufs aufmerksamste den Verlauf des österreichisch-serbischen Konfliktes, dem Rußland nicht gleichgültig gegenüberstehen könne", (österreichisch-ungarisches Rotbuch 1914, Nr. 15, Russisches Orangebuch Nr. 10.) Die russische Einmischungspolitik sollte durch militärischen Druck unterstützt werden. In dem vorerwähnten Ministerrat hat "der Kriegsminister (Suchomlinow) sehr energisch gesprochen und bestätigt, daß Rußland zum Kriege bereit sei, und die übrigen Minister haben sich voll angeschlossen; es wurde in entsprechendem Geist ein Bericht an den Zaren fertiggestellt, und dieser Bericht wurde an demselben Abend bestätigt". (Schreiben des Adjutanten eines Großfürsten vom 25. Juli 1914, Aktenstücke zum Kriegsausbruch, 1915, S. 57. Vgl. auch Deutsche Dokumente Nr. 205.) Ferner wurde der Beschluß gefaßt, im geheimen die vierundzwanzig Millionen Rubel abzuheben, die die russische Regierung bei deutschen Banken gut hatte. (Paleologue, a. a. 0., S. 249.) Bereits an diesem Tage sah man also einem alsbaldigen Konflikt mit Deutschland entgegen.
Schon am 25. Juli wurden umfassende militärische Maßnahmen gegen Österreich-Ungarn beschlossen (Telegramm des Zaren an den Kaiser vom 30. Juli. Deutsche Dokumente Nr. 390). Diese Haltung entsprach, wie das französische Gelbbuch (Nr. 22) zeigt, der bereits vor Überreichung der österreichisch-ungarischen Note zwischen Rußland und Frankreich vereinbarten Einmischungspolitik. Diese wiederum hat, wie die serbischen Enthüllungen ergeben, ihre Ursache in den russischerseits Serbien seit Jahren gemachten Zusicherungen hinsichtlich einer dereinst zu gewährenden Unterstützung gegen Österreich-Ungarn und des Erwerbs österreichisch-ungarischer Gebietsteile.

Weiter: 
Rußlands Stellungnahme zum austro-serbischen Konflikt

 

Zur Hauptseite

© 2006 www.erster-weltkrieg.com