IV.
Der österreichisch-russische Konflikt
2.
Vermittlungsvorschläge
Am 27. Juli ging die serbische Antwortnote in Berlin, Petersburg, Paris
und London ein*). Die Regierungen der Dreiverbandsländer sahen sie
als ausreichend und sehr entgegenkommend an. In absichtlicher oder unabsichtlicher
Verkennung der Methoden der serbischen Politik verschlossen sie sich der
Hinterhältigkeit und Zweideutigkeit der Antwort auf manche der österreichischungarischen
Forderungen. Es ist auch ganz natürlich, daß sich alle Fernerstehenden
nur dem günstigen Gesamteindruck hingaben, während das unmittelbar
beteiligte Wiener Kabinett mit unerfreulicher Akribie nach Unzulänglichkeiten
forschte.
Am 27. Juli wandte sich Grey nach Berlin mit der Bitte, die deutsche Regierung
möge in Wien befürworten, daß sich Wien entweder mit der
serbischen Antwort begnüge oder aber sie als Grundlage für Unterhandlungen
betrachte (Deutsche Dokumente Nr. 258, Englisches Blaubuch Nr. 46). Die
deutsche Regierung ist diesem Wunsche sogleich nachgekommen und hat die
Annahme des englischen Vorschlages in Wien mit folgenden Worten
empfohlen:
Nachdem wir bereits einen englischen Konferenzvorschlag abgelehnt haben,
ist es uns unmöglich, auch diese englische Anregung a limine abzuweisen.
Durch eine Ablehnung jeder Vermittlungsaktion würden wir von der
ganzen Welt für die Konflagration verantwortlich gemacht und als
die
*) Die große Verspätung bei der Übermittlung
der serbischen
Antwortnote vom 25. Juli wurde in Paris auf österreichisch-ungarische
Machinationen zurückgeführt (Russisches Orangebuch Nr. 36, vgl.
auch Österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr. 54). Wahrscheinlicher
ist, daß die Telegramme aus Belgrad nach Abbruch der diplomatischen
Beziehungen den Umweg über Rumänien-Rußland nahmen. Die
telegraphische Absendung der langen Antwortnote einmal durch die serbische
Regierung an vermutlich alle serbischen Gesandtschaften, ferner die Weitergabe
des Textes durch manche der fremden Vertretungen (z. B. der russischen,
Orangebuch Nr. 36) wird gleichzeitig erfolgt sein. Die ohnehin durch Mobilisationstelegramme
stark belasteten serbischen Leitungen waren dieser übermäßigen
Inanspruchnahme wohl kaum gewachsen.
eigentlichen Treiber zum Kriege hingestellt werden. Das würde auch
unsere eigene Stellung im Lande unmöglich machen, wo wir als die
zum Kriege gezwungenen dastehen müssen. Unsere Situation ist um so
schwieriger, als Serbien scheinbar sehr weit nachgegeben hat. Wir können
daher die Rolle des Vermittlers nicht abweisen und müssen den englischen
Vorschlag dem Wiener Kabinett zur Erwägung unterbreiten, zumal London
und Paris fortgesetzt auf Petersburg einwirken. Erbitte Graf Berchtolds
Ansicht über die englische Anregung, ebenso wie über Wunsch
Herrn Sasonows, mit Wien direkt zu verhandeln (Deutsche Dokumente Nr.
277).
Die österreichisch-ungarische Regierung' lehnte diesen Vorschlag
jedoch am 29. Juli unter Hinweis auf die Eröffnung der Feindseligkeiten
durch Serbien und die inzwischen erfolgte Kriegserklärung ab (Deutsche
Dokumente Nr. 400, Österreichisches Rotbuch 1919, III, Nr. 25).
Berchtold hat anscheinend die von Szögyeny (im Österreichischen
Rotbuch II, Nr. 68) gemeldete Warnung Jagows vor englischen Vorschlägen,
mit denen er sich "in keiner Weise identifiziere", auf diese
Anregung bezogen, obwohl sie von Bethmann Hollweg "zur Erwägung
unterbreitet", also empfohlen wurde (Österreichisches Rotbuch
1919, II, Nr. 82, III, Nr. 25). Wie diese Auffassung entstehen konnte,
ist nicht recht verständlich, da Szögyeny berichtet hatte, "die
deutsche Regierung würde bei jedem einzelnen derartigen Verlangen
Englands in Wien demselben (?) auf das ausdrücklichste erklären,
daß es in keiner Weise derartige Interventionsverlangen Österreich-Ungarn
gegenüber unterstütze und nur, um dem Wunsche Englands zu entsprechen,
dieselben weitergebe". Überdies erfolgte die Ablehnung in Wien
am 29. Juli abends (Österreichisches Rotbuch 1919, III, Nr, 25),
also zu einer Zeit, wo der nachstehend behandelte deutsche Vorschlag vom
28. Juli (Deutsche Dokumente Nr. 323), der ebenfalls auf das von Serbien
gezeigte Entgegenkommen Bezug nahm, bereits in Wien bekannt gewesen sein
muß.
Nach der Ablehnung dieses englischen Vorschlages und nach erfolgter Kriegserklärung
an Serbien war jede Aussicht auf eine friedliche Beilegung des österreichisch
-serbischen Streites vorerst beseitigt. Die deutsche Regierung unterbreitete
daraufhin sogleich in Wien einen Vorschlag, der geeignet war, sowohl dem
berechtigten Verlangen Österreich - Ungarns nach Genugtuung und Sicherheiten
für die Zukunft Rechnung zu tragen, wie auch die Erhaltung Serbiens
und die Wahrung der russischen Interessen am Balkan zu gewährleisten.
Es ist dies der auf Anregung des Kaisers (Deutsche Dokumente Nr. 293)
zurückzuführende Vorschlag einer Besetzung Belgrads oder anderer
serbischer Gebietsteile als Faustpfand (Deutsche Dokumente Nr. 323), der
mit den Worten schließt:
Erkennt die russische Regierung die Berechtigung dieses Standpunktes nicht
an, so wird sie die öffentliche Meinung ganz Europas gegen sich haben,
die im Begriffe steht, sich von Österreich abzuwenden. Als eine weitere
Folge wird sich die allgemeine diplomatische und wahrscheinlich auch die
militärische Lage sehr wesentlich zugunsten Österreich-Ungarns
und seiner Verbündeten verschieben.
Euere Exzellenz wollen sich umgehend in diesem Sinne dem Grafen Berchtold
gegenüber nachdrücklich aussprechen und eine entsprechende Demarche
in St. Petersburg anregen. Sie werden es dabei sorgfältig zu vermeiden
haben, daß der Eindruck entsteht, als wünschten wir Österreich
zurückzuhalten. Es handelt sich lediglich darum, einen Modus zu finden,
der die Verwirklichung des von Österreich-Ungarn erstrebten Zieles,
der großserbischen Propaganda den Lebensnerv zu unterbinden, ermöglicht,
ohne gleichzeitig einen Weltkrieg zu entfesseln und, wenn dieser schließlich
nicht zu vermeiden ist, die Bedingungen, unter denen er zu führen
ist, für uns nach Tunlichkeit zu verbessern.
Am Abend des 27. Juli war die serbische Antwortnote in Berlin bekannt
geworden*). Die Beurteilung war im wesentlichen günstig. Kaiser Wilhelm
schrieb auf den Rand der Note, die ihm am 28. Juli morgens vorgelegt wurde:
"Eine brillante Leistung für eine Frist von blos 48 Stunden.
Das ist mehr als man erwarten konnte! Ein großer moralischer Erfolg
für Wien; aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort, und Giesl
(der österreichisch-ungarische Gesandte für Serbien) hätte
ruhig in Belgrad bleiben sollen! Daraufhin hätte ich niemals Mobilmachung
befohlen!" (Deutsche Dokumente Nr. 271.) Im Auftrage des Kaisers
schrieb der Generaladjutant von Plessen an den Chef des Generalstabs,
"daß die Serben im wesentlichen alle die an sie gestellten
Forderungen zugestanden haben, und daß damit für Österreich
der Anlaß zum Kriege fortfällt". Vom Kanzler und vom Auswärtigen
Amt mag die Note etwas weniger günstig beurteilt worden sein. Jedenfalls
erschien sie aber als eine mögliche Grundlage für Verhandlungen,
wie Jagow am 29. Juli auch dem französischen Botschafter bestätigte
(Französisches Gelbbuch Nr. 92).
Die österreichisch-ungarische Kriegserklärung an Serbien ließ
sich jedoch nicht mehr rückgängig machen. Es galt also einen
Ausweg zu finden, der den ausgebrochenen Krieg auf das geringstmögliche
Maß beschränkte und gleichzeitig dem serbischen Entgegenkommen
Rechnung trug. Unter diesen Umständen ist der Vorschlag einer vorübergehenden
Besetzung Belgrads als Faustpfand und Wiederaufnahme der Verhandlungen
auf dieser Grundlage als besonders glücklich anzusehen, zumal in
dem Telegramm nach Wien vom 28. Juli (Deutsche Dokumente Nr. 323) ausdrücklich
*) Der serbische Geschäftsträger hatte die am Abend vorher bei
ihm eingegangene Telegrammausfertigung im Laufe des 27. Juli dem Auswärtige»
Amt im Original überreicht (Deutsche Dokumente Nr. 270, 271). Das
umfangreiche, französisch abgefaßte Schriftstück wurde
- wie üblich - zunächst vervielfältigt, da es im Original
schlecht leserlich war und außerdem mehreren Stellen zugleich vorgelegt
werden mußte. Hierdurch entstand ein nicht unerheblicher Zeitverlust
(siehe Deutsche Dokumente Nr. 279).
hervorgehoben wurde, daß Serbien den österreichisch-ungarischen
Forderungen in weitgehendem Maße entgegengekommen sei.
Am 29. Juli wurde erneut auf diesen Ausweg hingewiesen (Deutsche Dokumente
Nr. 384).
Daß diese von der deutschen Regierung vorgeschlagene Lösung
wohl am besten geeignet war, die Erweiterung des Konfliktes zu verhüten
und den Interessen aller Parteien Rechnung zu tragen, geht aus der Tatsache
hervor, daß Grey (der von dem Telegramm nach Wien, Deutsche Dokumente
Nr. 323, wußte - siehe Englisches Blaubuch Nr. 75, Einleitung §
6, letzter Absatz, und Oman S. 54) am folgenden Tage mit einem ähnlich
lautenden Vorschlage hervortrat (Deutsche Dokumente Nr. 368, Englisches
Blaubuch Nr. 88). Dieser wurde gleichfalls von Berlin nach Wien weitergegeben
und energisch befürwortet (Deutsche Dokumente Nr. 395), ebenso wie
das Telegramm des Königs von England an den Prinzen Heinrich von
Preußen vom 30. Juli, das denselben Vorschlag enthielt (Deutsche
Dokumente Nr. 452, 464). Schließlich hat auch Kaiser Wilhelm in
einem persönlichen Telegramm an Kaiser Franz Joseph auf eine baldige
Entscheidung für die deutschen (bzw. von Deutschland unterstützten)
Vorschläge gedrängt (Deutsche Dokumente Nr. 437).
Auf die Nachricht hin, daß die direkten Besprechungen zwischen Wien
und Petersburg zum Stillstand gekommen seien, telegraphierte Bethmann
Hollweg am 29. Juli nach Wien:
Rußland beschwert sich, daß die Unterhaltungen weder durch
Herrn Schebeko noch durch Graf Szapary Fortlauf genommen hätten.
Wir müssen daher, um eine allgemeine Katastrophe aufzuhalten oder
jedenfalls Rußland ins Unrecht zu setzen, dringend wünschen,
daß Wien Konversationen (gemäß Deutsche Dokumente Nr.
323) beginnt und fortsetzt (Deutsche Dokumente Nr. 385).
Als ebenfalls nach London gemeldet wurde, daß Sasonow die direkten
Besprechungen als abgebrochen betrachte, schlug ferner Grey am 29. Juli
abermals die Vermittlung der vier Mächte vor (Englisches Blaubuch
Nr. 84). In dem entsprechenden Telegramm Lichnowskys (Deutsche Dokumente
Nr. 357) ist der Vorschlag nicht enthalten. Jetzt war aber der von Grey
am 25. Juli für die Vermittlung in Aussicht genommene Zeitpunkt eingetreten:
Rußland mobilisierte, und es war nicht zweifelhaft, daß Österreich-Ungarn
bald ein gleiches tun werde. In diesem Augenblick sollten die vier Mächte
dazwischentreten (Deutsche Dokumente Nr. 180, Englisches Blaubuch Nr.
24, 25).*) Die deutsche Regierung, die sich bereits am 24. und 25. Juli
mit einer Vermittlung zu vieren einverstanden erklärt hatte, gab
der österreichisch-ungarischen Regierung
*) Die in Berlin überreichte englische Verbalnote ist in den Deutschen
Dokumenten leider nicht mit abgedruckt worden. Siehe Nr. 180, Anm. 4.
bei der Mitteilung des englischen Vorschlages, die Besetzung Belgrads
betreffend, den dringlichen Rat, die Vermittlung der Mächte anzunehmen.
Es heißt in diesem Telegramm (Deutsche Dokumente Nr. 395):
Wir stehen somit, falls Österreich jede Vermittlung ablehnt, vor
einer Konflagration, bei der England gegen uns, Italien und Rumänien
nach allen Anzeichen nicht mit uns gehen würden, so daß wir
zwei gegen vier Großmächte ständen. Deutschland fiele
durch Gegnerschaft Englands das Hauptgewicht des Kampfes zu. Österreichs
politisches Prestige, die Waffenehre seiner Armee, sowie seine berechtigten
Ansprüche Serbien gegenüber, könnten durch die Besetzung
Belgrads oder anderer Plätze hinreichend gewahrt werden. Es würde
durch Demütigung Serbiens seine Stellung im Balkan wie Rußland
gegenüber wieder stark machen. Unter diesen Umständen müssen
wir der Erwägung des Wiener Kabinetts dringend und nachdrücklich
anheimstellen, die Vermittlung zu den angegebenen ehrenvollen Bedingungen
anzunehmen. Die Verantwortung für die sonst eintretenden Folgen wäre
für Österreich-Ungarn und uns eine ungemein schwere.
Die deutsche Regierung hat gleichzeitig mit vorstehendem Telegramm auf
die Meldung ihres Botschafters in Petersburg hin, daß das Wiener
Kabinett nach Mitteilung Sasonows den Weg direkten Gedankenaustausches
mit Petersburg nicht beschritten habe, folgende ernste Warnung nach Wien
gesandt:
Wir können Österreich-Ungarn nicht zumuten, mit Serbien zu verhandeln,
mit dem es im Kriegszustand begriffen ist. Die Verweigerung jeden Meinungsaustausches
mit Petersburg aber würde ein schwerer Fehler sein, da er kriegerisches
Eingreifen Rußlands geradezu provoziert, das zu vermeiden Österreich-Ungarn
in erster Linie interessiert ist. Wir sind zwar bereit, unsere Bundespflicht
zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Wien leichtfertig
und ohne Beachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen
zu lassen. Auch in italienischer Frage scheint Wien unsere Ratschläge
zu mißachten. Bitte sich gegen Graf Berchtold sofort mit allem Nachdruck
und großem Ernst aussprechen. (Deutsche Dokumente Nr. 396.)
Schließlich sandte Bethmann Hollweg am 30. Juli noch folgendes Telegramm
nach Wien:
Wenn Wien, wie nach dem telephonischen Gespräch Euerer Exzellenz
mit Herrn von Stumm anzunehmen, jedes Einlenken, in Sonderheit den letzten
Greyschen Vorschlag (Deutsche Dokumente Nr. 395) ablehnt, ist es kaum
mehr möglich, Rußland die Schuld an der ausbrechenden europäischen
Konflagration zuzuschieben. S. M. hat auf Bitten des Zaren die Intervention
in Wien übernommen, weil er sie nicht ablehnen konnte, ohne den unwiderleglichen
Verdacht zu erzeugen, daß wir den Krieg wollten. Das Gelingen dieser
Intervention ist allerdings erschwert dadurch, daß Rußland
gegen Österreich mobilisiert hat. Dies haben wir heute England mit
dem Hinzufügen mitgeteilt, daß wir eine Aufhaltung der russischen
und französischen Kriegsmaßnahmen in Petersburg und Paris bereits
in freundlicher Form angeregt hätten, einen neuen Schritt in dieser
Richtung also nur durch ein Ultimatum tun könnten, das den Krieg
bedeuten würde. Wir haben deshalb Sir Edward Grey nahegelegt, seinerseits
nachdrücklich in diesem Sinne in Paris und Petersburg zu wirken,
und erhalten soeben seine entsprechende Zusicherung durch Lichnowsky.
Glücken England diese Bestrebungen, während Wien alles ablehnt,
so dokumentiert Wien, daß es unbedingt einen Krieg will, in
den wir hineingezogen sind, während Rußland schuldfrei bleibt.
Das ergibt für uns der eigenen Nation gegenüber eine ganz unhaltbare
Situation. Wir können deshalb nur dringend empfehlen, daß Österreich
den Greyschen Vorschlag annimmt, der seine Position in jeder Beziehung
wahrt.
Euere Exzellenz wollen sich sofort nachdrücklichst in diesem Sinne
Graf Berchtold, eventuell auch Graf Tisza gegenüber, äußern.
(Deutsche Dokumente Nr. 441.)
Die deutschen Vorschläge konnten, bei aller Halsstarrigkeit der Wiener
Regierung, doch nicht ganz unberücksichtigt bleiben. Am 29. Juli
meldete der deutsche Botschafter, Berchtold sei (auch jetzt, nach der
Kriegserklärung an Serbien) bereit, die Erklärung wegen des
territorialen Desinteressements nochmals zu wiederholen. Bezüglich
des deutschen Vorschlages einer Beschränkung der militärischen
Operationen behielt er sich die Antwort vor (Deutsche Dokumente Nr. 388).
Am folgenden Tage, dem 30. Juli, meldete der Botschafter in bezug auf
die angeblich abgebrochenen Verhandlungen mit Petersburg, Berchtold habe
nur die Besprechung des serbisch-österreichischen Streites mit
Rußland abgelehnt, sei aber bereit, alle Österreich-Ungarn
und Rußland direkt tangierenden Fragen mit letzterem zu besprechen
(Deutsche Dokumente Nr. 432). Am gleichen Tage meldete er, es liege in
bezug auf die angeblich abgebrochenen Besprechungen ein Mißverständnis
vor und Berchtold habe bereits entsprechende Instruktionen nach Petersburg
gesandt (Deutsche Dokumente Nr. 448). Der österreichisch-ungarische
Botschafter hatte übrigens inzwischen schon von sich aus die Verhandlungen
wieder aufgenommen und die seinerseits bereits gemachten Zusicherungen
erneuert (Österreichisches Rotbuch 1919, III, Nr. 19). Berchtold
selbst empfing am 30. Juli den russischen Botschafter zu einer beide Teile
befriedigenden Aussprache über die Lage (Österreichisches Rotbuch
1919, III, Nr. 45). Das diese Unterredung betreffende Telegramm
Schebekos
ist in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 20. Mai 1919 veröffentlicht
worden. Es schließt mit den Worten:
Das ganze Gespräch trug den freundschaftlichsten Charakter, und ich
erhielt den Eindruck, daß Österreich wirklich den Wunsch hegt,
zu einer Verständigung mit uns zu gelangen, es aber nicht für
angängig hält, seine Operationen gegen Serbien einzustellen,
bevor man nicht volle Genugtuung und ernste Garantien für die Zukunft
erhalten habe. Zum Schluß betonte der Minister nochmals, daß
Österreich jede aggressive Absicht gegen Rußland fern läge.
Auch der französische Botschafter in Wien berichtete, daß diese
"hochwichtige Unterredung" zu einer Klärung der Lage und
zur Wiederaufnahme der direkten Besprechungen geführt habe (Französisches
Gelbbuch Nr. 104); ebenso der englische Botschafter, welcher meldete,
daß sein russischer Kollege "im ganzen nicht unzufrieden"
war (Englisches Blaubuch Nr. 96). Der belgische Gesandte berichtete ausführlich
über diese glückliche und vielverheißende
Wendung (Belgisches Graubuch, II, Nr. 15, 16). Die deutsche Regierung
konnte noch am 30. Juli ihrem Botschafter in London die Meldung aus Wien
über diesen Erfolg der deutschen Schritte mitteilen (Deutsche Dokumente
Nr. 433, 444). Sie sprach hierbei die Erwartung aus, "daß England
in Petersburg auf gleiches Entgegenkommen, und namentlich auf Einstellung
seiner Kriegsmaßnahmen wirken werde". Diese Erwartung ging,
trotz der englischen Zusage an Lichnowsky (Deutsche Dokumente Nr. 489)
nicht in Erfüllung, wie Greys Telegramm nach Petersburg vom 31. Juli
(Englisches Blaubuch Nr. 110) zeigt.
Auf die deutschen Vorstellungen hin nahm die österreichischungarische
Regierung schließlich auch die von England gewünschte Vermittlung
der Mächte an.
Das betreffende Telegramm (Österreichisches Rotbuch 1919, III, Nr.
65), das aber erst am 1. August nach Berlin abging, nach London und Petersburg
nur "zur persönlichen Information" des Botschafters gesandt
wurde, schloß mit den Worten:
Ich ersuche Euere Exzellenz, dem Herrn Staatssekretär für die
uns durch Herrn von Tschirschky gemachten Mitteilungen verbindlichst zu
danken und ihm zu erklären, daß wir trotz der Änderung,
die in der Situation seither durch die Mobilisierung Rußlands eingetreten
sei, in voller Würdigung der Bemühungen Englands um die Erhaltung
des Weltfriedens gerne bereit seien, dem Vorschlag Sir E. Greys, zwischen
uns und Serbien zu vermitteln, näherzutreten.
Die Voraussetzungen unserer Annahme seien jedoch natürlich, daß
unsere militärische Aktion gegen Serbien einstweilen ihren Fortgang
nehme und daß das englische Kabinett die russische Regierung vermöge,
die gegen uns gerichtete Mobilisierung seiner Truppen zum Stillstand zu
bringen, in welchem Falle wir selbstverständlich die uns durch die
russische Mobilisierung aufgezwungenen defensiven militärischen Gegenmaßregeln
in Galizien sofort rückgängig machen werden.
Am Abend des 30. Juli hatte also die österreichisch-ungarische Regierung
immerhin die deutschen Vorschläge zum großen Teil angenommen,
mit Ausnahme allerdings der Beschränkung der Operationen gegen Serbien
auf die Besetzung eines Faustpfandes. Die Antwort auf diesen Vorschlag,
dessen Annahme vom deutschen Botschafter am 30. Juli an der Hand der analogen
englischen Anregung erneut warm befürwortet wurde (Deutsche Dokumente
Nr. 465), wurde deutscherseits für den 31. Juli erwartet (Deutsche
Dokumente Nr. 440). Die Nachricht von der allgemeinen Mobilmachung in
Rußland, die den Krieg bedeutete, hat den deutschen Bemühungen
ein Ende gemacht. Anderenfalls wäre, wenn die russische Kriegspartei
dies noch zugelassen hätte, eine Einigung zwischen Petersburg und
Wien erzielt worden, denn Sasonow hat sich von den Eröffnungen, die
ihm der österreichisch-ungarische Botschafter am 31. Juli machte
(Österreichisches Rotbuch 1919, III,
Nr. 97), befriedigt erklärt. In einer in London am 1. August übergebenen
russischen Note heißt es:
Der österreichisch-ungarische Botschafter erklärte die Bereitwilligkeit
seiner Regierung, den Inhalt des österreichischen Ultimatums an Serbien
zu erörtern. In seiner Antwort sprach Herr Sasonow seine Befriedigung
aus und sagte, es sei wünschenswert, daß die Besprechungen
in London unter Teilnahme der Großmächte stattfänden (Englisches
Blaubuch Nr. 133).
Dank der deutschen Vermitt1ungstätigkeit war somit eine genügende
Grundlage für eine Verständigung erreicht. Der europäische
Frieden wäre erhalten worden, wenn nicht Rußland durch seine
gegen das, die Vermittlung betreibende, Deutsche Reich gerichtete Mobilmachung
den Krieg herbeigeführt hätte.
Die Wiener Regierung hat aber an dem Teilerfolg der deutschen Vermittlungstätigkeit
kein Verdienst. Sie war, wie aus dem Protokoll des Ministerrats vom 31.
Juli (österreichisches Rotbuch 1919, III, Nr. 79) klar hervorgeht,
fest entschlossen, die Operationen gegen Serbien auf keinen Fall, auch
nicht mit Rücksicht auf die Gefahr eines Weltkrieges, einzustellen.
Sie wollte sogar von dem deutschen Vorschlag der Beschränkung der
Operationen auf die Besetzung eines Faustpfandes nichts wissen. Berchtold
erklärte, Österreich-Ungarn "hätte von einer einfachen
Besetzung Belgrads gar nichts". Diese Auffassung ist aber niemals
nach Berlin mitgeteilt worden. Auf den ursprünglichen deutschen Vorschlag
erfolgte keine weitere Antwort, als dii in dem Telegramm des Kaisers Franz
Joseph vom 31. Juli enthaltene:
Die im Zuge befindliche Aktion meiner Armee gegen Serbien kann durch
die bedrohliche und herausfordernde Haltung Rußlands keine Störung
erfahren (Deutsche Dokumente Nr. 482).
Dies bedeutete die glatte Ablehnung des deutschen Vorschlages. Durch die
inzwischen bekannt gewordene russische Gesamtmobilmachung wurde aber jede
weitere deutsche Vermittlungstätigkeit illusorisch gemacht (Deutsche
Dokumente Nr. 502, 503).
In Wien entschloß man sich am 31. Juli mit Rücksicht auf das
deutsche Drängen lediglich dazu, auf die englischen Vorschläge
einzugehen; man wollte dabei zwar in der Form Entgegenkommen zeigen, aber
"sorgsam vermeiden, den englischen Antrag in meritorischer Hinsicht
anzunehmen". Die Antwort auf Tschirschkys Ersuchen vom 29. Juli (österreichisches
Rotbuch 1919, III, Nr. 65) wurde so spät nach Berlin gesandt, daß
sie erst am 1. August dort anlangte. In den deutschen und österreichisch-ungarischen
Akten hat sie weiter keine Spur hinterlassen. Es ist also anzunehmen,
daß sie der deutschen Regierung bis zum Erscheinen des ersten
österreichisch-ungarischen Rotbuches unbekannt geblieben ist. Hingegen
hat der österreichisch-ungarische Botschafter in London von jener
Weisung seiner Regierung Gebrauch gemacht und Grey bewogen, im Sinne dieses
bedingten Entgegenkommens nach Petersburg zu telegraphieren (Österreichisches
Rotbuch 1919, III, Nr. 94, Englisches Blaubuch Nr. 135). Auch Graf Szecsen
in Paris suchte das Einlenken Berchtolds im Interesse des europäischen
Friedens zu verwerten. Der Botschafter eilte noch am 31. Juli zwischen
11 und 12 Uhr abends auf das Ministerium des Äußeren, wo er
von Berthelot empfangen wurde. Über den Inhalt seiner Erklärung
gibt das französische Gelbbuch (Nr. 120) Aufschluß. Berthelot
erwiderte, "daß es schon sehr spät wäre und daß
man durch die Ereignisse mitgerissen sei". (Humanite vom 9. Juni
1912.) Er wußte, daß nach der russischen Gesamtmobilmachung
der Krieg - auch für Frankreich - unvermeidlich sei.
Um nicht in ihrer Aktion gegen Serbien gestört zu werden, knüpfte
die Wiener Regierung ihr Entgegenkommen auf die englischen Vorschläge
an die Bedingung, daß die russische Mobilisierung gegen Österreich-Ungarn
eingestellt werde. Diese Forderung läßt sich immerhin vertreten,
denn es wäre für Österreich-Ungarn doppelt nachteilig gewesen,
unter dem militärischen Druck Rußlands nachgeben zu müssen.
Ein solches Zurückweichen Wiens vor der russischen Kriegsdrohung
mag ursprünglich das Ziel der Petersburger Regierung gewesen sein.
Dann ist die gefährliche Maßnahme der am 25. Juli beschlossenen
Teilmobilmachung als Erwiderung auf den schroffen Ton und die weitgehenden
Forderungen der österreichisch-ungarischen Note an Serbien anzusehen.
Inzwischen waren aber Sasonow die militärischen Pferde durchgegangen,
die er in sein diplomatisches Gefährt eingespannt hatte. Die russische
Gesamtmobilmachung änderte die Dinge von Grund auf. Die militärischen
Druckmittel wurden Selbstzweck, während die diplomatischen Verhandlungen
nur noch zur Bemäntelung der Mobilmachung dienten.
Gänzlich von der Auseinandersetzung mit Serbien hypnotisiert, konnte
oder wollte die Wiener Regierung den Ernst der Lage nicht erkennen. Sie
hatte sich anscheinend ganz mit der Möglichkeit abgefunden, daß
"Rußland den Moment für die große Abrechnung mit
den europäischen Zentralmächten bereits für gekommen erachte"
(Österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr. 42). Die ungeheuren Lasten
des Weltkrieges sollten dann auf die breiten Schultern des wehrhaften
deutschen Bundesgenossen abgebürdet werden. Bella gerant alii...
Kaiser Franz Joseph schloß sein vorerwähntes Telegramm an Kaiser
Wilhelm, in dem er den deutschen Vergleichsvorschlag ablehnte, mit den
Worten: "Ich bin mir der Tragweite meiner Entschlüsse bewußt
und habe dieselben im
Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit gefaßt mit der Sicherheit, daß
Deine Wehrmacht in unwandelbarer Bundestreue für mein Reich und für
den Dreibund eintreten wird." (Deutsche Dokumente Nr. 482.)
Die Haltung der österreichisch-ungarischen Regierung ist um so weniger
verständlich, als die Aussichten eines europäischen Krieges
keineswegs günstige waren, selbst wenn man die größten
Hoffnungen auf die Heere des deutschen Verbündeten setzte. Tisza
hat in einer Denkschrift an den Kaiser Franz Joseph über das "Kräfteverhältnis
in einem Kriege gegen Rußland, Serbien, Rumänien - nach Angaben
des Chefs des Generalstabes" auf Grund seiner Besprechungen mit Conrad
von Hötzendorff ein trostloses Bild entworfen.
Er gab zu, daß die österreichisch-ungarischen Truppen am nördlichen
Kriegsschauplatz aller Wahrscheinlichkeit nach gleich stark seien, wie
die gegenüberstehende russische Heeresmacht, dagegen die an der Ostgrenze
des Deutschen Reiches aufgestellten deutschen Truppen in der ersten Phase
des Feldzuges überlegene russische Truppen vor sich haben werden.
Die Südarmee aber wird kaum in der Lage sein, die überlegenen
serbischen Kräfte dauernd aufzuhalten, während wir der vordringenden
rumänischen Armee keinen ernsten Widerstand leisten werden können.
Die russische Armee braucht also nur einer raschen Entscheidung, welche
im Siegesfalle einen Teil unserer Truppen zum Schutze unserer Süd-
und Südostgrenze verfügbar machen würde, auszuweichen und
abzuwarten, bis die rumänische Armee in Siebenbürgen eindringt,
die von Rumänen bewohnten Gegenden in Aufruhr versetzt und unserer
mit den Serben kämpfenden Armee in Flanke und Rücken fällt.
Die absolut sichere Niederlage dieser Armee eröffnet den Weg nach
Budapest und Wien vor der feindlichen Macht und entscheidet den ganzen
Feldzug.
Schießlich bemerkte er, daß Bulgarien bei seiner jetzigen
Erschöpfung kaum einen sehr wesentlichen Teil der rumänischen
Streitkräfte binden könnte, um so weniger, da eine Intervention
Bulgariens in diesen gegen Serbien geführten Krieg aller Wahrscheinlichkeit
nach heute noch den Casus foederis für Griechenland bedeuten würde.*)
Sehr befremdlich erscheint, daß Berchtold - möglicherweise
mit Absicht - eine Antwort nach Berlin (London und Petersburg) sandte,
die sich nicht mit dem englischen Vorschlag deckte (siehe Gooss, S. 237
ff). Unverantwortlich ist. daß man in Wien auf den ursprünglichen
deutschen Vorschlag der Besetzung eines Faustpfandes überhaupt nicht
einging. Mit einer Leichtfertigkeit, die fast den Verdacht der Böswilligkeit
aufkommen lassen könnte, setzte man den Bundesgenossen den Gefahren
eines Weltkrieges aus, um einiger Gradunterschiede willen, die bei dem
Erfolge gegen Serbien auf dem Spiele standen. Das Wiener Verhalten hat
zudem den festwurzelnden Verdacht erzeugt, daß Berlin die Vermittlung
nicht ernstlich betrieben oder gar seinerseits vereitelt habe.
*) Nach W. Fraknoi, Die ungarische Regierung und die Entstehung des Weltkrieges
(Wien 1919), S. 33.
Bei der Beurteilung der deutschen Vermittlungstätigkeit in Wien muß
zunächst der Gedanke abgelehnt werden, den die Alliierten und Assoziierten
Mächte in ihrer Erwiderung auf die deutschen Gegenvorschläge
ausgesprochen haben, es sei der Berliner Regierung mit ihren Vorstellungen
nicht ernst gewesen und man könne annehmen, "daß nach
einem in dem deutschen Auswärtigen Amte üblichen Brauche offiziöse
Mitteilungen oder eine vorherige Vereinbarung zwischen denjenigen stattgefunden
hätte, die tatsächlich die Macht besaßen, und daß
diese Mitteilungen oder diese Vereinbarung anders gelautet hätten,
als die durch den amtlichen Draht übermittelten Botschaften".
Man mag dem Umstand keine Beweiskraft zumessen, daß keinerlei Anzeichen
für derartige geheime Verabredungen und für den Einfluß
von Personen vorhanden sind, die außerhalb des Kreises der wirklich
verantwortlichen standen, jedoch "tatsächlich die Macht besaßen".
Wer sollten aber diese unverantwortlichen Machthaber gewesen sein? Im
feindlichen Ausland ist vielfach die Ansicht verbreitet, die militärischen
Stellen hätten damals - in Deutschland wie in Rußland und anderen
Ententeländern - zum Kriege getrieben und die politische Entscheidung
beeinflußt. Wer das Verhältnis zwischen den politischen Instanzen
und den deutschen Militärbehörden vor dem Kriege kennt, wird
über diese Vorstellung lächeln. Die einzige Möglichkeit
zur Geltendmachung militärischer Wünsche in der Politik bot
damals das Ohr des Kaisers, und dieses war während der Zeit der Spannung
für jede kriegerische Einflüsterung taub. Die Deutschen Dokumente
zeigen auch, daß die militärischen Stellen lediglich zur Begutachtung
der militärischen Lage herangezogen worden sind. Dies ist vielleicht
sogar in nicht genügendem Maße geschehen. Tirpitz beklagt sich
auf jeder anderen Seite seiner "Erinnerungen", daß er
von Bethmann Hollweg nicht befragt, daß sein Rat nicht eingeholt
worden sei. Es ist nicht anzunehmen, daß Moltke wesentlich besser
behandelt wurde. Die sattsam bekannte politische Tätigkeit der Generäle
hat erst im Kriege begonnen. Bei Kriegsausbruch sind die Verhandlungen
allein vom Kaiser, dem Kanzler und dem Auswärtigen Amt geführt
worden. Der Wunsch des Kaisers, zu einer friedlichen Verständigung
zu gelangen, kann nicht zweifelhaft erscheinen. Die Verhandlungen mit
Wien hat der Kanzler selbst geführt. Er deckte die zahlreichen Telegramme
an Tschirschky zwischen dem 28. und 31. Juli mit seinem Namen. In vielen
Fällen (z. B. Deutsche Dokumente Nr. 277, 396, 441) hat er den Wortlaut
der ergangenen Weisungen eigenhändig aufgesetzt bzw. abgeändert.
Die tatsächliche Entscheidung lag in seinen Händen. Es kann
sich aber niemand der Sinnlosigkeit der Vorstellung verschließen,
daß Bethmann Hollweg mit seinen so häufig wiederholten ernsten
Mahnungen nicht das bezweckt hätte, was seine Worte sagten.
Es ist auch unzutreffend, was die Herausgeber der Deutschen Dokumente,
Montgelas und Schücking, in ihren Vorbemerkungen sagen, daß
"gerade besonders delikate Angelegenheiten zunächst in Privatbriefen
zwischen den beteiligten Personen besprochen werden", und daß
dieser Brauch "auch in Angelegenheiten der auswärtigen Verwaltung
eine bedeutsame Rolle gespielt habe". Der Umstand, daß außenpolitische
Fragen in den allermeisten Fällen eine schnelle Behandlung erfordern,
verbietet bereits, daß sie "zunächst" privatim zwischen
den Beteiligten erörtert werden. Im deutschen diplomatischen Dienst
sind Privatbriefe verhältnismäßig selten zur Ergänzung
der amtlichen Berichterstattung benutzt worden. Telegramme, die nur an
eine bestimmte Person gerichtet sind, kommen kaum vor. Im auswärtigen
Dienst anderer Länder ist dies wesentlich anders. Die von Oman zitierten
Telegramme sind fast zur Hälfte "Sir E. Grey, private"
adressiert. Im deutschen diplomatischen Dienst wurden Privatbriefe in
der Regel nur zwischen befreundeten, also meist gleichalterigen Beamten
gewechselt. In den Akten findet sich kein einziges persönliches Schreiben
von Pourtales an Jagow, der einem jüngeren Jahrgang angehörte.
Wohl aber finden sich solche vor, die Tschirschky, Flotow und Lichnowsky,
die aus derselben Altersklasse hervorgegangen sind, an ihn gerichtet haben.
Die weitaus meisten Privatbriefe betreffen den Klatsch, der vor dem Krieg
die große internationale Familie der Diplomaten aller Länder
interessierte, und andere Nachrichten, die sich nicht für eine ernste
Berichterstattung eigneten. In sonstigen Fällen wurde dieser Weg
meist nur dann beschritten, wenn sich jemand seiner Sache nicht recht
sicher fühlte und so zu vermeiden hoffte, sich gewissermaßen
aktenmäßig zu blamieren: wenn z. B. seine Voraussagen nicht
eintrafen. In diesem letzteren Sinne führte der Nebenweg meist nicht
zum Ziel, denn Briefe von politischem Belang sind in der Regel zu den
Akten genommen worden, zum mindesten im Auszuge.
Der ernsteste Einwand, der seitens der Alliierten und Assoziierten Mächte
gegen den Wert und die Bedeutung der deutschen Vermittlungstätigkeit
in Wien zwischen dem 27. und 30. Juli erhoben wird, ist der, daß
diese Vermittlung zu spät eingesetzt habe. Aber nicht Deutschland,
sondern Rußland trägt die Schuld daran, daß sich die
Ereignisse so sehr überstürzt haben. Bereits am 27. Juli, ehe
sie sich von der Nachgiebigkeit Serbiens selbst überzeugt hatte,
forderte die deutsche Regierung Wien zum Einlenken auf (Deutsche Dokumente
Nr. 277). Unter Hinweis auf das serbische Entgegenkommen machte sie am
28. Juli ihren an sich recht glücklichen Vorschlag, es mit der Besetzung
eines Faustpfandes bewenden zu lassen (Deutsche Dokumente Nr. 323). Dies
geschah, ehe die russische Teilmobilmachung bekannt geworden war (Deutsche
Dokumente Nr. 343, 385) und bevor Lichnowsky meldete, Grey habe ihm mitgeteilt,
England werde im Falle einer europäischen Konflagration nicht neutral
bleiben (Deutsche Dokumente Nr. 368).
Der deutschen Regierung war bekannt, daß für die österreichisch-ungarische
Mobilmachung gegen Serbien sechzehn Tage zu rechnen seien (Deutsche Dokumente
Nr. 19) und daß die eigentlichen Operationen nicht vor dem 12. August
beginnen würden Deutsche Dokumente Nr. 213, 245, 323). Sie durfte
also glauben, daß reichlich Zeit zur Vermittlung vorhanden sei.
Daß ein ernstes militärisches Vorgehen gegen Serbien nicht
unmittelbar auf die Kriegserklärung folgen könne, wußten
zweifellos auch die anderen europäischen Kabinette. Jeder Generalstab
kannte die Schwierigkeiten des Geländes und die Unzulänglichkeit
der Bahnen in diesem Aufmarschgebiet. Der Vorwurf des zu späten Handelns
stellt also nur einen Versuch der Dreiverbandsmächte dar, die Schuld
an der Überstürzung der Entwicklung, die sie in erster Linie
traf, auf Deutschland abzuwälzen.
Die Telegramme Bethmann Hollwegs zeigen eine stetige Steigerung des Ernstes
und der Dringlichkeit der Sprache. Im wesentlichen handelt es sich aber
um Variationen der gleichen Argumente. Zunächst erklärt er,
daß Deutschland Vermittlungsvorschläge anderer Mächte
eben wegen seiner Beziehungen zu diesen Mächten nicht ablehnen könne.
Dieses Argument verstärkt er mit dem Hinweis darauf, daß Deutschland
und Österreich bei der Ablehnung einer Vermittlung als Kriegstreiber
erscheinen würden. Die Folge wäre, daß sich die öffentliche
Meinung Europas von Österreich-Ungarn, bzw. von den Mittelmächten
abkehren würde. Daraus würde eine ungünstige diplomatische
Situation erwachsen. Ferner würden die Verbündeten bei einer
ablehnenden Haltung für die etwaige Entstehung eines Weltbrandes
verantwortlich werden. Ihre Aufgabe müsse sein, diese Katastrophe
aufzuhalten. Ihre Stellung im eigenen Lande würde anderenfalls unhaltbar.
Zum mindesten müßte die Verantwortung auf Rußland abgewälzt
werden. Schließlich, als letztes und stärkstes Argument, drohte
Bethmann mit der Kündigung der bundesgenössischen Unterstützung.
"Wir müssen es ablehnen, uns von Wien leichtfertig und ohne
Beachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen."
Der bayerische Gesandte in Berlin hat am 29. Juli nach München berichtet:
Die Politik des Deutschen Reiches ist darauf gerichtet, daß der
Alliierte mit einem Gewinn an Prestige aus der Sache hervorgeht, aber
der Weltfrieden erhalten bleibt (Deutsche Dokumente, Anhang IV, Nr. 14).
Bethmann Hollweg schwankte offensichtlich zwischen der Aufgabe, "einen
Modus zu finden, der die Verwirklichung des von
Österreich-Ungarn erstrebten Zieles ermöglichte, der großserbischen
Propaganda den Lebensnerv zu unterbinden", und zu verhindern, daß
gleichzeitig ein Weltkrieg entfesselt werde, bzw., wenn dieser nicht zu
vermeiden sei, die Bedingungen, unter denen er zu führen wäre,
nach Tunlichkeit zu verbessern (Deutsche Dokumente Nr. 323). Zweifellos
wünschte er, den Weltkrieg zu vermeiden. Er wollte aber, wenn irgend
möglich, das ursprüngliche Ziel, die Unterbindung der großserbischen
Propaganda, nicht opfern. Von Tag zu Tag, fast von Stunde zu Stunde, trat
das größere Ziel, die Erhaltung des Weltfriedens, mehr in den
Vordergrund. Daß dies dem Kanzler zum Bewußtsein kam, sieht
man in der Steigerung seiner Argumentation. Der Hinweis auf die Gefahr,
daß die Mittelmächte als Kriegstreiber erscheinen würden,
und daß dies die Stellung der deutschen Regierung im eigenen Lande
unmöglich mache, ist der Auftakt zu der Erklärung, daß
Berlin Wien nicht unter allen Umständen Gefolgschaft leisten werde.
Die Warnung vor der Abkehr der öffentlichen Meinung Europas ist im
Grunde die gleiche Argumentation, wie die, daß Rußland ins
Unrecht gesetzt werden müsse. Letztere wurde ja auch gelegentlich
unterstrichen durch einen Hinweis auf den (angeblich) von London und Paris
auf Petersburg ausgeübten Druck. Dies "ins Unrecht setzen"
spielte in jenem Augenblick, wie überhaupt in der Politik, eine besonders
große Rolle. Dieselbe Warnung, die von Berlin nach Wien ging, ist
auch von Paris nach Petersburg gerichtet worden. Die französische
Regierung hat die russische gewarnt, sich nicht durch offenkundige Mobilmachung
gegenüber Deutschland ins Unrecht zu setzen. Ursprünglich hatte
sich Serbien gegen Österreich-Ungarn ins Unrecht gesetzt. Dies suchte
die Wiener Regierung zu benutzen, um den großserbischen Treibereien
ein Ende zu machen. Da sie in ihrem Vorgehen das Maß des Erwarteten
und Zugebilligten erheblich überschritt, setzte sie sich ins Unrecht.
Dies nutzte Rußland aus, um seinerseits durch Mobilmachung und scharfes
Vorgehen gegen Österreich-Ungarn, sowie durch einen Appell an die
Solidarität seiner Verbündeten eine europäische Krisis
herbeizuführen, die mit einem, zum mindesten diplomatischen, Erfolg
des Dreiverbandes enden sollte. Grey hat Lichnowsky am 31. Juli (Deutsche
Dokumente Nr. 489) auf die Notwendigkeit hingewiesen, daß Wien seinerseits
Rußland ins Unrecht setzte, damit das Gleichgewicht wieder hergestellt
werde, und er die Möglichkeit erhielte, auf Petersburg und Paris
einen Druck auszuüben. Fraglich erscheint, ob es Grey mit seinen
Absichten ernst war. Seine Argumentation stimmt aber jedenfalls mit der
von Bethmann Hollweg überein. Den Gegner ins Unrecht zu setzen, war
namentlich bei dem etwaigen Eintritt in den Krieg von überragender
Bedeutung. Wie sehr sich Rußland durch seine ungerechtfertigte Mobilmachung
gegen Deutschland ins Unrecht gesetzt hat, zeigen deutlich die Bemühungen der
Ententemächte, diese Tatsache zu bemänteln bzw. totzuschweigen.
Allmählich scheint die deutsche Regierung zu der Auffassung gekommen
zu sein, daß ihre Bundestreue von der Wiener Regierung mißbraucht
werde. Diese Einsicht, verbunden mit der Erkenntnis, daß Rußland
auf das schnellste mobilisiere, und der Mitteilung, daß England
nicht neutral bleiben werde, haben jene Kopflosigkeit verursacht, von
der die deutschen Akten ein so beredtes Zeugnis ablegen. Die deutsche
Regierung, die einen Weltkrieg nicht gewollt hatte, deren Präventivaktion
gegen Serbien letzten Endes nur den Zwecken der Erhaltung des europäischen
Friedens dienen sollte, sah sich plötzlich in einer Falle. Die Haltung
ihres Bundesgenossen, den sie unterstützt hatte, versetzte sie ins
Unrecht. Während sie bisher wohl geglaubt hatte, um den Weltkrieg
zu vermeiden, genüge es, wenn Deutschland selbst ihn nicht wolle,
sah sie sich jetzt diplomatisch eingefangen und erkannte, daß ihre
Gegner sie um keinen Preis, auch nicht um den Preis einer diplomatischen
Niederlage, herauslassen würden. Denn der Entschluß zum Nachgeben,
der überdies mit einer beispiellosen Schnelligkeit hätte gefaßt
werden müssen, hing nicht von Berlin, sondern von Wien ab, und in
Wien war man, wie wir heute wissen, wie man damals aber schon geahnt haben
muß, zum Einlenken in diesem Sinne nicht bereit. Der Kaiser hat
die Lage ebenfalls so empfunden und am 30. Juli in der Sprache seiner
Marginalien folgendermaßen gekennzeichnet: "England dekouvriert
sich im Moment, wo es der Ansicht ist, daß wir im Lappjagen
eingestellt sind und so zu sagen erledigt!" (Deutsche Dokumente Nr.
368). "Dabei wird uns die Dummheit und Ungeschicklichkeit unseres
Verbündeten zum Fallstrick gemacht... Das Netz wird uns plötzlich
über den Kopf gezogen..." (Deutsche Dokumente Nr. 401).
Weiter:
Rußlands Unnachgiebigkeit
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